Im Leben jedes Menschen kommt, immer mal wieder, der Moment, in dem man zu sich selbst nichts anderes sagen kann als: Ich bin zu alt für diesen Scheiß. Das fängt irgendwann in der Frühpubertät an und endet, ach, eigentlich nie. Das Interessante an Kunst, Pop und guter Musik ist, dass man dafür nie zu alt wird. Man wird zu alt für bestimmte Codes, Riten, Vergewisserungen, Images, Mythen. Und so ist, insbesondere was Pop und Musik anbelangt, immer wichtig, ob man sich etwa für die Musik interessiert. Die Codes kann man dann einfach mitnehmen, bis in jedes Alter meinetwegen. Umgekehrt kann man sich aber auch ein Leben lang, was weiß ich, mit den Beatles oder Jimi Hendrix oder Bob Dylan beschäftigen und alles als Verrat und Verflachung ansehen, was danach kam. Weil das war der Scheiß, für den ich damals nicht zu alt war. Und für den ich gern jung geblieben wäre.
Geht aber nicht, ist halt so. Alles keine große Sache. Doch natürlich gibt es immer wieder „Phänomene“ im Pop und anderswo, bei denen Codes, Riten, Vergewisserungen, Images, Mythen und alles das wichtiger sind als „gute Musik“ oder „gute Filme“. Die nimmt man dann im Zweifelsfall auch noch mit. Pop-Mythen, die einfach nur für ein bestimmtes Alter gelten und denen man, wenn man älter ist, schon sehr genau die Art ansieht, in der sie den Fans nur wenig später peinlich sein werden oder unverständlich. Justin Bieber etwa.
Ein Hauch von Disney-Kiddieness
Ein Bild, ein Klang, eine Erzählung, die so treffend scheint, dass sie über den Kreis der eigentlichen Empfänger hinausreicht. Öffentliches, Performance gewordenes Jungsein, nicht in der Rotzrevolte des Punk, nicht in der synthetischen Queerness von Tokio Hotel, nicht in der lasziven Romantik von Goth und Vampirserien, nicht in der Slackness von Neofolk, aber auch nicht ganz in der bigotten Familienplanung der Partridge Family oder der Marshmallow-Kidness von Disney-Produktionen. Das war schon damals, in den Neunzigern, das Allerexotischste: ein Normalo. Ein authentischer Normalo (wenngleich dann doch mit einem Hauch von Disney-Kiddieness) auf dem Weg vom Kind zum Erwachsensein. So was sagt sich leicht, und ist ziemlich schwer herstellbar, als Bild, als Erzählung und in einem echten Menschen.
Justin Bieber unterscheidet sich von den üblichen Teenie-Stars bemerkenswerterweise dadurch, dass die „Authentizisten“ des Rock’n’Roll verlegen schweigen und die Feuilletonisten des Rock’n’Roll sich beeilen, Talent und Ausstrahlung zu bescheinigen, wo sie früher nach dem Sozialpsychologen gerufen hätten. Justin Bieber wurde von der Journaille adoptiert und gilt seitdem als ungefähr so konsensfähig wie, sagen wir, Robbie Williams.
Die Tücken von Konsens-Pop und ihren Repräsentanten liegen auf der Hand. Was, zum Teufel, soll das für eine Aussage sein, gegen die niemand etwas hat? Der Spiegel freut sich, die Bild jubelt, die Teenie-Presse ergeht sich ohnehin im üblichen Fetischismus. Aber auch reifere Damen werden publizistisch verbiebert, bürgerliche Zeitungen wundern sich, dass das musikalisch und schauspielerisch nicht so schlecht ist; fehlte noch, dass Diedrich Diederichsen ein Signal zum Justin-Bieber-Gutfinden-Dürfen gibt. Dann ist Deutschland was? Richtig, im „Justin-Bieber-Fieber“.
Was also ist anders als früher?
Und keiner, der erklärt, dass Bieber im Grunde so laaaangweilig ist wie alle anderen Teenie-Phänomene (und natürlich genau so aufregend wie sie, wenn man im richtigen Alter ist), dass aber zwei Dinge sich gegenüber früher (als bekanntlich alles besser war) geändert haben.
Erstens: die Professionalisierung aller Segmente des Entertainment. Auch Kinder-und-Teenager-Darsteller haben nun genügend Disziplin und Selbstdistanz zu performen, dass sie schon das eine wie das andere nicht mehr sind. Diese Diskurswechsel – schön gesagt: vom Wunderkind zum ernsthaften Performer, weniger schön gesagt: von der Darstellung der Unschuld zur Bearbeitung der Korruption – finden nicht mehr statt. Justin Bieber ist das Bild vom Jungsein für eine Gesellschaft, die ans Jungsein nicht mehr glaubt.
Zweitens: Die politische Ökonomie des globalen Entertainment lässt einen geschlossenen Teenie-Markt inzwischen genauso wenig zu wie einen „nationalen“ Binnenmarkt. Jedes Produkt des Entertainment muss daher darauf angelegt sein, die Grenzen geschlossener Märkte zu überschreiten.
So ist ein Produkt stets in seinen Erfolgsaussichten bestimmt durch eine besondere Mischung aus Provokation und Affirmation, Aufmerksamkeit und Konsensfähigkeit, zwei Dinge, die man sich im echten Leben eher als Widersprüchliches vorstellt, müssen in einer Person verbunden sein. Und diese Person muss das aushalten, erfüllen und in gewissem Grad überschreiten (so entdecken wir in Lady Gaga eben die intelligente und aufrechte Person, die sie womöglich ist). Anders als im seinerseits geschlossenen System von Casting-Shows des Fernsehens kann daher in der nachhaltig professionellen Entertainment-Kultur nicht „jeder ein Star“ werden. Das Ausgedrückte, und mag das noch so „geplant“ und „künstlich“ sein, muss einen Träger dieses Ausdrucks finden, der dem gewachsen ist oder an ihm wächst. Und wie man anderswo lernt, mit Rohstoffen zu haushalten, so lernt man in der Pop-Industrie, dass man nur solche Images und Inszenierungen „verheizen“ darf, die nichts kosten (wie eben die Casting-Show-Opfer). Wird aber investiert in einen Star, dann muss der schon „sein Geld wert“ sein. Und das ist Justin Bieber zweifellos.
Aus einem absehbaren Mangel geboren
Das überschreitet dann bereits die klassische Dreiteilung des Teenie-Stars: Er ist, wie er ist. Er ist, wie er sein will. Er ist, wie er sein soll. Justin Bieber ist das schon wiederum paradoxe Bild eines hard working teenie stars: Er strengt sich an. Er gibt sich Mühe. Er ist weder ein Streber noch ein Klassenclown. Er ist vielmehr ein Rollenmodell für das Bewusstsein, dass harte Zeiten auf uns zukommen. Normalo zu sein (mit dieser Beimengung von Niedlichkeit, die man anderswo ehrlich zum Kotzen findet), reicht da nicht mehr aus. Lethargie, Narzissmus und Revolte sind verkehrt, was man hat, muss auch eingesetzt werden.
So ist dieser Konsens etwas anderes als ein bloßer Kompromiss oder ein „kleinster gemeinsamer Nenner“; es realisiert sich in diesem Bild auch die Arbeit der Fans an einem Weg des Zurechtkommens mit den Verhältnissen. Justin Bieber kommt nicht aus dem Überfluss wie die meisten seiner Vorgänger, und dem entsprechend müssen in ihm auch wenige der verbotenen Wünsche herumsubtexten. Justin Bieber entstand aus dem absehbaren Mangel.
Lena Meyer-Landrut in Deutschland funktioniert gar nicht so unähnlich. Auch sie repräsentiert musikalisch ein Talent, das schon einen Fuß ins Können gesetzt hat, auch sie vertritt die trotzige Normalität und verkörpert ein Rollenmodell nicht nur, sondern arbeitet auch in ihm. Und auch sie arbeitet daran, ihrem Publikum zu gefallen, ohne dem Rest der Welt unerträglich zu werden. Freilich ist die deutsche Pop-Industrie keine sehr kluge.
Bruder Usher
Justin Bieber ist auch viel dramatischer. Er ist einer der Teenager, die auf die ordnende und liebende Macht eines intakten Elternhauses nicht mehr zählen dürfen, ohne sogleich in die Gegenwelt des Ghettos zu fallen. Das Harmonische in Biebers Musik stammt, könnte man mythisieren, indes so sehr aus einer positiven Beziehung zu seiner alleinerziehenden Mutter, wie das Leidenschaftlich-Rebellische bei John Lennon oder Eminem von Hassliebesgeschichten zur Mutter stammen mag (zumindest scheint man dazu Texte und Geschichten zu finden.)
Aber wie bei Eminem kann auch Justin Bieber zur Musik nur durch die Hilfe eines schwarzen „großen Bruders“ – des Musikers, Schauspielers und Produzenten Usher – gelangen, und letzten Endes ist auch seine Musik nichts anderes als das, was seit Elvis Presley passiert: die Übertragung schwarzer Musik in einen weißen Dialekt. Nur dass dies im Jahr 2011 nicht mehr heimlich geschieht. Die Voraussetzung der „Unschuld“ in Justin Biebers Musik und Person liegt darin, dass er die schwarzen Wurzeln seines Idioms nicht mehr verheimlichen muss, aber auch nicht mehr so dramatisieren wie Eminem. Auch die Musik selber akzeptiert ein kommendes Leben in einer schwindenden Minderheit von Normalos, die nicht mehr durch einen strengen gesellschaftlichen Code vorgegeben ist, sondern durch einen Akt der Selbstermächtigung. Man sucht sich seine Idiome und Zeichen nicht mehr in den diversen Subsystemen, sondern erbastelt sie sich in, aus schwarzen und weißen, alten und neuen, authentischen und synthetischen, eigenen und fremden Elementen. In aller Unschuld. Normal versteht sich längst nicht mehr von selbst.
Und meine ganz persönliche Meinung zu Justin Bieber, Musik und Film? Es gibt Schlimmeres. Echt jetzt.
Georg Seeßlen schrieb im Freitag zuletzt über
Kommentare 5
lieber freitag,
auch wenn justin bieber vielleicht als gesellschaftliches phänomen ganz interessant sein mag und der artikel interessant zu lesen war - meine ganz persönliche meinung: es gibt interessanteres. echt jetzt.
Gerne gelesen. Gerne mehr Texte zu Kultur/ Musik und Gesellschaftsbild.
"Auch Kinder-und-Teenager-Darsteller haben nun genügend Disziplin und Selbstdistanz zu performen, dass sie schon das eine wie das andere nicht mehr sind. Diese Diskurswechsel – schön gesagt: vom Wunderkind zum ernsthaften Performer, weniger schön gesagt: von der Darstellung der Unschuld zur Bearbeitung der Korruption – finden nicht mehr statt."
Das finde ich eigentlich eine bedenkliche Entwicklung. Gar nicht mal, dass man unbedingt die Rock- oder Popacts vermissen muß, die scheinbar so gar kein businessgerechtes Verhalten draufhaben oder "erwartungsgemäß" naive Kiddiebands belächeln darf. Aber eine so früh nahezu perfekt ausgebildete Performance, eine so früh ausgebildete Ernsthaftigkeit und Strebsamkeit, ja ein Karierrebewußtsein ist, glaube ich, bei Jugendlichen überhaupt heute viel stärker ausgeprägt, als noch vor ein paar Jahrzehnten. Und das finde ich irgendwie schon unheimlich. Und das tritt besonders stark bei den Casting-"Stars" von DSDS zu tage. Alles muss perfekt sein; man erlaube sich möglichst keine Fehlbarkeit, gebe ein möglichst rundes Bild. Damit fehlt aber jeder Ansatz, der noch was mit Kunst zu tun hätte; fehlt jede Persönlichkeit. Und gerade im Popbereich geht es so doch kaum noch spießiger.
Ehrlich gesagt, es erschließt mich nicht, was an der beschriebenen Situation neu sein sollte. Es gab schon immer Kunst für Normalos und kantige ggf. rebellische Kunsterscheinungen, wobei Kunst für Normalos viel stärker repräsentiert und verbreitet war und dementsprechend besser bezahlt. Solche Verhältnisse entstanden nicht heute, nicht gestern und nicht vorgestern... das war immer und überall so. Karrieredenken ebenfalls.
Und das mit Teenie-Darling ist irgendwie übertrieben... Teenies sind keine homogene Masse, die die gleiche Musik hört und auf diese Musik gleich reagiert. Sie sind genauso unterschiedlich wie Erwachsene. Meine Tochter reagiert absolut fanatisch auf 30 Seconds to Mars und Yann Tiersen, wobei sie sich nicht nur von Musik angezogen fühlt, sondern sie kann den komplizierten englischen Texten bei 30 Seconds to Mars folgen, und bei Yann Tiersen schätzt sie sehr, wie virtuos er die Instrumente beherrscht... davon versteht sie was, weil sie selbst in der Musikschule Keyboard und Gitarre lernt und dazu Musiktheorie-Kurs macht.
Ich meine, es geschieht nichts prinzipiell Neues mit unseren Teenies, was in vorigen Generationen nicht der Fall wäre. Und mit der Kultur im Allgemeinen auch. Was hier über Musik geschrieben wurde, kann man auch auf Literatur, Architektur oder was weiß ich beziehen.
Justin Bieber hat nur am Rande etwas mit Musik und Popkultur zu tun. Er könnte genauso gut ein Schauspieler oder Sportler sein. Das Phänomen ist ganz einfach: Die jüngeren jugendlichen Mädchen finden ihn süß. Darum kaufen Sie sich seine CD's, T-Shirts oder die Justin Bieber Bettwäsche. Bis sie etwas älter werden und feststellen, dass auch die kleineren ihn gut finden und schon ist er uncool und die Begeisterung verfliegt.
So ist das heute mit vielen Themen. Für Interessierte: Bei Google Trends kann man den Verlauf solcher Hypes sehr schön verfolgen. Geben sie mal "robert pattinson" ein...
"Justin Bieber hat nur am Rande etwas mit Musik und Popkultur zu tun."
Warum nicht? Was du beschreibst, gehört ja untrennbar zu 'Popkultur'. Und vielleicht ist es auch etwas verkürzt, dass Bieber, wie auch andere vor ihm, eben nur "süß" gefunden werden. Aber "Süß-Finden", "Cool-Finden", "Gangsta-Image" oder "Sex'nDrugs'nRock'nRoll" usw. sind alles Kriterien, die eben ein Phänomen der Popkultur ausmachen.
Neben der klingenden Musik, trägt gleichermaßen die Persönlichkeit, das Image, Inhalte oder Werte, die transportiert werden und nicht zuletzt, was die Fans daraus machen zum gesamten Komplex eines Popstars bei. Alle diese Aspekte bedingen einander; sie sind untrennbar.