Sind Blumen bourgeois?

Sozialismus Rebecca Solnit findet in George Orwell einen Mitstreiter für das Glück: Über das schwierige Verhältnis der Linken zu Natur und Schönheit
Exklusiv für Abonnent:innen | Ausgabe 34/2022
Ist jemand, der Rosen mag, schon ein unverbesserlicher Romantiker?
Ist jemand, der Rosen mag, schon ein unverbesserlicher Romantiker?

Foto: H. Tschanz-Hofmann/IMAGO

Heute Morgen saß ich am Fluss und sah zu, wie die Sonne am gegenüberliegenden Ufer langsam über den Bäumen aufstieg. Als ich so dasaß, hörte ich die schrillen Pfiffe eines Eisvogels. Mein Blick schweifte über das Wasser, und tatsächlich sah ich wenig später zwei Eisvögel dicht übers Wasser hinfliegen, besser: hinflitzen. Sie waren nicht auf Fische aus, sondern schienen sich einfach ihres Lebens zu freuen und den Rausch des Fliegens zu genießen. Eine ganze Weile flogen sie von hier nach dort und wieder zurück. Wenn sie von einem Sonnenstrahl erfasst wurden, blitzte ihr Gefieder auf und leuchtete in allen möglichen Farben. In solchen Augenblicken empfinde ich so etwas wie Glück.

Als ich in der Corona-Zeit begann, regelmäßiger Tagebuch zu führen und die Einträge unter dem Titel Durchhalteprosa zu veröffentlichen, ließ ich dort auch immer öfter meine Natur- und Vogelbeobachtungen einfließen. Es dauerte nicht lang, da erreichte mich die elektronische Zuschrift eines Bekannten, der mir mitteilte, er könne meine „Naturbegeisterung so nicht nachvollziehen“. Weiter hieß es: „Zwar bewege ich mich auch gerne – und gerade jetzt täglich (joggend) – in der Natur, aber dein Enthusiasmus z. B. bei der Beobachtung einer Entenfamilie etc. ist mir doch ziemlich fremd. Mir ist da zu viel Romantisierung (deutsche Romantik) und Projektion im Spiel. Das kleinteilige Leben einer Tierfamilie ist ‚an sich‘ genauso wenig idyllisch wie ein Alpenpanorama oder ein Sonnenuntergang ‚schön‘ ist (siehe z. B. Heinrich Heine).“

Diese Mail hinterließ mich ratlos und machte mich dann auch wütend. Was für ein oberlehrerhafter Ton! Für den Absender riecht die Welt nach Papier, durch die Natur bewegt er sich zweckgebunden: joggend. Natur als Laufband sozusagen, der Körper als Untersatz des Kopfes, in dem es streng kartesianisch und begrifflich zugeht. In dieser Antwort auf meine Texte schien mir plötzlich das ganze Elend der Linken zum Ausdruck zu kommen. Sie war und ist kopflastig, sinnen- und genussfeindlich. Ihre Deklarationen, Resolutionen und Analysen sind oft formelhaft-trocken und greifen nicht in die Fantasie. Sie enthielten und enthalten, wie Ernst Bloch bemerkte, „zu viel Schema“ und zu wenig „blaue Blume“. Unter dem Einfluss von Georg Lukács wurde die Romantik von der Linken als Wegbereiter des Faschismus begriffen, ihr Protest gegen die totale Verzweckung und „Entzauberung der Welt“ wurde nicht verstanden und aufgegriffen. Die Linke ist auf demselben Holz gewachsen wie die protestantische Ethik, die Max Weber als den „Geist des Kapitalismus“ gefasst hat. Für mich waren die Stunden an der Lahn, wo ich auf einem Baumstamm saß und einer Schwänin beim Brüten zusah, mit das Schönste während der Corona-Zeiten. Und wenn ich sie in der Folge mit ihren vier Küken erste Schwimmausflüge unternehmen und grasen sah, erfüllte mich das mit Freude. Vielleicht begriff ich jetzt erst wirklich, was es heißt, sich die Welt zu „romantisieren“, wie Novalis es so wunderbar ausgedrückt hat. Ich mache mir das unlebbare Leben halbwegs lebbar, indem ich es gelegentlich romantisiere.

Als Orwell Rosen pflanzte

Ich bekenne also, dass ich ein unverbesserlicher Romantiker bin, der sich eine neue und qualitativ andere Gesellschaft als eine vorstellt, in der es friedlich und still zugeht und schön ist. Ich bin davon überzeugt, dass Wahrheit und Schönheit sich an einem tiefen Punkt berühren. Das bedeutet, dass das Schöne wahr sein muss, um wirklich schön sein zu können, und das Wahre schön, um wahr sein zu können. Eine sozialistische Gesellschaft, die wie die kapitalistische von Werten wie Effizienz, Leistung, Arbeit und Heroismus beherrscht ist, ist lediglich eine Variante des Alten. Der bevorstehende ökologische Kollaps nötigt uns bei Strafe des Untergangs, die sozialistische Alternative endlich auf einer anderen Grundlage zu entwerfen. Wenn uns die Zeit dafür überhaupt noch bleibt. Vielleicht, wahrscheinlich, ziemlich sicher haben wir es bereits verkackt.

Seit Längerem über diese Dinge nachdenkend, kam mir ein Buch wie gerufen, das gerade im Rowohlt Verlag erschienen ist. Die amerikanische Aktivistin und Essayistin Rebecca Solnit hat es geschrieben und Orwells Rosen genannt. Spät entdeckt sie an Orwell Seiten, die sie wie viele andere lange übersehen hatte und die sie zunächst nur schwer mit ihrem Bild des Autors von Die Farm der Tiere, 1984 und Mein Katalonien zusammenbringen kann. Es ist das Bild eines groß gewachsenen, hageren und ernsten Mannes, der sich mit Haut und Haaren dem Kampf gegen die verschiedenen Formen des Totalitarismus verschrieben hat. Sie stößt in einem alten Orwell-Reader auf einen Text von ihm über das Bäumepflanzen. Er hatte 1936 nördlich von London in einem Ort namens Wallington ein Cottage bezogen und dort Obstbäume und Rosen gepflanzt. Obstbäume und Gemüse, das mochte ja noch angehen, das hat einen Nutzen, aber Rosen? „Im Frühling 1936 pflanzte ein Schriftsteller Rosen“, lautet der erste Satz ihres Buches, um den es letztlich kreist. Prompt erhielt Orwell einen Brief von einer Leserin, die ihm vorwarf, es sei bourgeoises Verhalten, sich mit Blumen abzugeben. Links und engagiert zu sein, bedeutete offenbar, ein strenges, beinahe klösterliches Leben zu führen und 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche für die Revolution zu arbeiten. Solnit erinnert an den alten Slogan „Brot und Rosen“, der aus einer Rede der New Yorker Gewerkschafterin Rose Schneiderman stammt, die 1911 gesagt hat: „The woman worker needs bread, but she needs roses too.“ In der Folge schrumpfte der ursprüngliche Schlachtruf auf: „Nur das Brot, keine Rosen.“ Gegen diesen Schwund und gegen die „Austerität der Linken“ ist Solnits Buch geschrieben.

Natürlich geht es in diesem Buch nicht nur um Rosen. Solnit schildert eine Szene aus dem Spanischen Bürgerkrieg. Orwell ist Ende 1936 nach Barcelona gekommen, um auf der Seite der POUM, einer nichtstalinistischen, marxistischen Partei, für die Republik zu kämpfen. Viel Zeit vergeht mit Vorbereitungen und mehr oder minder sinnlosen militärischen Übungen. Endlich zu den feindlichen Linien an der Aragón-Front vorgedrungen, wartet Orwell tagelang vergeblich darauf, einen Faschisten ins Visier zu bekommen. Als er schließlich einen Feind im Schussfeld auftauchen sieht, ist es ein Soldat, der eben seine Notdurft verrichtet hat und nun auf der Flucht seine Hosen festhalten muss, um nicht zu stürzen. Plötzlich kann Orwell nicht abdrücken: „Ich war nach Spanien gegangen, um auf ‚Faschisten‘ zu schießen, aber ein Mann, der seine Hosen festhalten muss, ist kein ‚Faschist‘, sondern offensichtlich ein Mitmensch, mir gleich, und mir war nicht danach, auf ihn zu schießen.“

Die Szene enthält im Kern alles, was den Orwell’schen Humanismus ausmachte und ihn vor Vereinnahmung durch Systeme totalitärer Herrschaft schützte. Plötzlich funktionierte die Reduktion des anderen auf den „Feind“ nicht mehr: „Das da ist ein Faschist, der zu liquidieren ist!“ Der Mann mit den heruntergelassenen Hosen hat womöglich eine Frau, Kinder, träumt von einem anständigen Leben und ist auf die betrügerischen Versprechungen der Faschisten hereingefallen. Die Reduktion auf den „Feind“ oder eine „Funktion“, die ein Mensch im kapitalistischen Verwertungszusammenhang einnimmt, schneidet all das ab. Orwell begreift: Ein Mensch ist immer ein Inbegriff von Hoffnung, Erwartung, Sehnsüchten. Einfühlungsvermögen ist kein bürgerliches Relikt, sondern eine Kardinaltugend der Veränderung und der aus ihr hervorgehenden freien Gesellschaft. Diese soll nicht die Verdoppelung der totalen Ökonomie sein, „sondern gerade der Hebel, um die beherrschte Wirtschaft an die Peripherie zu stellen und den Menschen erstmals in die Mitte“, wie es bei Ernst Bloch heißt. „Entronnen den Schrecken der Ökonomie“ (Rimbaud) sollen die Menschen endlich Gelegenheit haben, ihre in der Klassengesellschaft nicht gelebten Möglichkeiten zu entfalten und ihren Leidenschaften nachzugehen. Oder einfach nur herumzusitzen, ihren Kopf in die Luft zu halten und die Wolken zu betrachten.

Um eine solche Gesellschaft ging es Orwell und geht es Solnit. Warum strebt man denn die Revolution an? Um des Glückes willen oder um den historischen Materialismus durchzusetzen? Die Freude, in Orwell einen Mitstreiter im Kampf für das Glück entdeckt zu haben, ist dem Buch auf fast jeder Seite anzumerken und macht seine Lektüre selbst zu einer Freude.

Götz Eisenberg, Publizist und Sozialwissenschaftler, war 1985 – 2016 Gefängnispsychologe in der JVA Butzbach. Seine Durchhalteprosa erscheint seit 2020 bei der GEW Ansbach

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