Vatermord und Muttersprache

Überwindung Zbigniew Mentzels Roman "Alle Sprachen dieser Welt"

Zbigniew Hintz ist bald 50 Jahre alt und fühlt sich noch immer nicht recht geboren, geschweige denn erwachsen. Das muss mit den enormen Erwartungen der Eltern an den einzigen Sohn zu tun haben, Erwartungen, denen er schon als Kind nicht entsprechen konnte, was seine Mutter ihn durch Liebesentzug, der Vater durch Fatalismus hat spüren lassen. Haben die beiden nicht alles für ihn getan? Haben sie ihm nicht Klavierunterricht aufgezwungen und ihm Wörterbuch um Wörterbuch geschenkt? Haben sie ihm nicht mit bedeutsamem Blick Zeitungsausschnitte hingelegt, in denen fabelhafte Leistungen von Zwölf-, Vierzehn-, Sechzehnjährigen bejubelt wurden? Ist sein Vater nicht - unerbittliches Uhrwerk der Pflichterfüllung - jeden Morgen eine Stunde zu früh zur Krankenhausapotheke aufgebrochen, um nur an keinem Tag seines langen Arbeitslebens zu spät zu kommen?

Und der Sohn? Unmusikalisch! Maulfaul! Langsam im Lernen von Fremdsprachen! Unsicher in der Muttersprache! Notorisch unzuverlässig und ewig erfolglos!

Das charmante Paradox des Romans Alle Sprachen dieser Welt ist es, dass Ich-Erzähler Zbigniew seinen lebenslang angestauten Frust in die Beschreibung eines Januartags um die Jahrtausendwende packt und diese Beschreibung des fast 50-Jährigen vorgeblich absichtslos zum ironischen Protokoll der Überwindung seiner Schreib- und Lebensblockade wird. Während Zbigniew seinen Lesern ein Panorama von Ohnmachtserfahrungen, Peinlichkeiten und fruchtlosen Bemühungen vorführt, von denen einige mit der Beharrlichkeit musikalischer Leitmotive durch den Text geistern, löst seine über weite Strecken virtuos erzählte Versagergeschichte all jene Forderungen ein, die die Eltern an Zbigniew hatten: Sie ist musikalisch in ihrer souveränen Komposition der Erzählmotive, eloquent und gewandt und greift in Fremdsprachen aus. Obendrein gelingt es dem Sohn, den pünktlichkeitsbesessenen Vater an seinem letzten Arbeitstag auf die Minute genau zur Pensionierungsfeier zu fahren.

Dass die Geburt des Sohns als Schriftsteller mit der Verrentung des Vaters zusammenfällt, rückt den Text - in dem geradezu genüsslich ausgebreitet wird, die Mutter des Erzählers habe eigentlich einen anderen, früh gestorbenen Mann geliebt - in die Nähe eines symbolischen Vatermords. Dies mag dem Roman des 1951 in Warschau geborenen Philologen Zbigniew Mentzel, der nach Verhängung des Kriegsrechts in Polen (1981) nach England emigrierte, inzwischen aber wieder in Warschau lebt, seinen besonderen Reiz verleihen.

Über das Polen der fünfziger bis neunziger Jahre erfährt man dabei eher wenig; besonders die Gewerkschaftsbewegung der siebziger und achtziger ist praktisch nicht präsent. Wesentlich wichtiger ist Stromkilometer 566 der Weichsel, wohin der Ich-Erzähler Hintz (den neben dem Geburtsjahr, der Ausbildung zum Polonisten, dem Gelderwerb als Börsenspekulant und dem Vornamen Zbigniew auch das "tz" seines erstaunlich deutschen Nachnamens mit dem Autor verbindet) jeden Sommer mit seinem Vater fährt. Wenn der Junge die brütend heißen Sommer angelnd am Strom verbringt, während der Vater als Sonnenanbeter mit Bräunungs-Tick mit einem Handtuch verschwindet, ist über die Tristesse des Familienlebens (die Mutter bleibt ohnehin im zivilisierten Warschau) vieles gesagt. Aber nicht alles, wie der 15-Jährige eines Tages erschrocken erkennt, als er den sich unbeobachtet glaubenden Vater mit bizarren Gesten in der prallen Sonne imaginäre Soldaten kommandieren sieht, was offenbar auf seine traumatische fünfjährige Haftzeit in einem deutschen Kriegsgefangenlager für polnische Offiziere zurückgeht.

Der Weltkriegsveteran als mitunter liebenswerter, stets aber befremdender Pedant, der einsam im Wald tobt, während der Sohn auf der Börsenklaviatur des Kapitalismus recht dilettantisch und mit kargen Gewinnmargen sein Auskommen sucht: In dieser provokanten Gegenüberstellung wird der Generationenkonflikt in Polen sichtbar, wo die Älteren sich auf alte Kämpfe gegen das sowjetisch verordnete politische System (und mitunter noch gegen die deutschen Okkupanten) beziehen, während die gesellschaftliche Realität längst viele Zeichen frühkapitalistischer Verheerung des sozialen Lebens aufweist, von denen die Helden von Danzig und anderswo sich nicht hätten träumen lassen.

Zbigniew Mentzel: Alle Sprachen dieser Welt. Roman. Aus dem Polnischen von Paulina Schulz. dtv premium. München 2006. 176 S., 12 EUR


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