Verdummung als Programm

Mexiko Die mexikanische Regierung macht große Drogenkartelle und fehlenden Gottesglauben für den Absturz in die Rezession und die wachsende Massenarmut verantwortlich

"Ohne Zweifel tanzen wir mit bei der seit langem hässlichsten Krise", kommentiert Mexikos Ex-Präsident Vicente Fox jüngste Wirtschaftsdaten für das zweite Quartal 2009. Sie bescheinigen dem 107-Millionen-Einwohnerland den größten Niedergang seit der Weltwirtschaftskrise des Jahres 1932 – ohne Aussicht auf baldige Erholung. Fox hat dafür eine Erklärung der besonderen Art parat. Schuld am dramatischen Einbruch der Wirtschaftsleistung von derzeit rund zwölf Prozent und steigender Massenarbeitslosigkeit seien die "ungünstige Stellung der Sterne" und "schlechte Schwingungen." Zwar gestand der Vorgänger des 2006 gewählten Amtsinhabers Felipe Calderón in einem verschachtelten Nebensatz ein, "jene Abhängigkeit von der Vereinigten Staaten" sei Verursacher und Auslöser der Krise, aber mehr Analyse schien ihm nicht möglich.

Abschied in die Schattenwirtschaft

Mexiko hat durch einen Freihandelsvertrag (TLC) und die Mitgliedschaft in der Nordamerikanischen Freihandelszone (NAFTA/seit 1994) sein ökonomisches Schicksal eng an das der USA gebunden. Was das angesichts der Rezession in Nordamerika bedeutet, liegt auf der Hand. Ungeachtet dessen blieben die Hauptfeinde der Mexikaner "das organisierte Verbrechen, die Gewalt und Drogen" – eine "frontale, epische und moralische Schlacht" sei zu schlagen, predigt Fox.

Damit befindet er sich voll und ganz im Einklang mit Mexikos Mainstream-Medien, der Calderón-Administration und dessen Partei der Nationalen Aktion (PAN). "Sogar die reichen Chefs und ihre Söhne gehen jetzt auf die Straße, weil die Regierung nicht den gesamten Haushalt zur Verbrechensbekämpfung einsetzt", ärgert sich der Journalist Pedro Echeverría über den "Zynismus von Calderón, PAN-Leuten, Medien und Unternehmern, die Stunden damit verbringen, die Kriminalität zu verurteilen." Welche Wahrheiten dabei auf der Strecke blieben, sei klar. "Sie sagen nichts von der großen Ausbeutung und der Misere. All das verschweigen sie!"

Tatsächlich sprechen die Zahlen mehr als deutlich für eine soziale Tragödie, die sich abseits skandalisierter Themen wie Schweinegrippe, Erdbeben und Drogengewalt abspielt. Laut Weltbank leben 51 Prozent der Menschen in der ursprünglichen Heimat der Maya und Azteken am Rand des Existenzminimums oder darunter. 2009 wuchs deren Zahl erheblich, bestätigt der Nationalrat für die Evaluierung der Entwicklungspolitik (Coneval).

"Verheerend ist vor allem die Arbeitslosigkeit," sagt Wirtschaftsexperte Alejandro Díaz Bautista. "In nur drei Monaten haben 400.000 Menschen ihre regulären Arbeitsplätze verloren. Eine weitere Million hat sich in nur sechs Monaten in die informelle Schattenwirtschaft verabschiedet." 12,2 Millionen Mexikaner müssen in diesem Sektor ohne sozialen Schutz, einer Krankenversicherung etwa, ihr Dasein fristen.

Besonders die Jugend bleibt chancenlos. Von den rund 37 Millionen jungen Mexikanern zwischen 12 und 29 Jahren habe ein Viertel weder Arbeit noch Ausbildungsstelle, meldet das Mexikanische Institut für Jugend (IMJ). Der Zusammenhang zwischen Kriminalität und defekter Wirtschaft wird schnell klar: Nur rund 15 Prozent gehen einer formellen Arbeit nach, Hunderttausende Jugendliche sind wegen Raub oder anderer Delikte verurteilt.

Scharfe Kritik von Lopéz Obrador

Die "Nationale Befragung zu Einnahmen und Ausgaben der Haushalte" (ENIGH) berechnet für die prekär Beschäftigten für 2009 bisher einen "Wohlstands"-Verlust von acht Prozent. Mit rund 2.000 Pesos (111 Euro) müssen sie im Monat auskommen – und das in der achtgrößten Wirtschaftsnation der Welt. Einer kleinen Schicht der besser Betuchten scheint die Krise indes nichts anzuhaben. Ihr Einkommen bleibt bei im Schnitt umgerechnet 7.260 Euro im Monat stabil.

"Es fehlt die Anstrengung und Opferbereitschaft aller", um die "Wirtschaft zu stimulieren", erkennt Felipe Calderón, der studierte Betriebswirt im Präsidentenamt, der sich den seit 2008 eskalierten Drogenkrieg allein mit "fehlendem Glauben an Gott" erklärt. Sein Wirtschaftscredo bleibt neoliberalen Zuschnitts, "die Zukunft" liege in "Privatisierung, Liberalisierung und Marktkontrolle durch die Wirtschaft".

Calderón-Rivale Manuel Lopéz Obrador von der Partei der Demokratischen Revolution (PRD) kritisiert die gleichgültige Elite des Landes scharf: "Sie kümmern sich nur darum, das Volk zu verblöden. Dabei ist ihre Macht so groß, dass – wenn sie eine Kuh zum Präsidentschaftskandidaten küren – diese die Wahl auch gewinnen würde."

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