Verordneter Aufbruch

Einspruch eines Moralisten Wider die Deformation der Solidarität

Das Ringen im Vermittlungsausschuss hat weder Gewinner noch Verlierer hinterlassen, sagen die Beteiligten. Wie Ringer nach einem Unentschieden hängen sie in den Seilen. Doch keiner der Athleten fühlt sich über den Tisch gezogen. Das Land hat gewonnen, heißt es. Doch wer ist das Land? Der Grund und Boden zwischen Rhein und Oder? Die schwarz-rot-goldene Fahne? Der Zauber über einem ruckartig reformfähigen Deutschland?

Dass der Vermittlungsausschuss als parlamentarisches Gremium handlungsfähig ist, hat er gegen die Unkenrufe eines Bürgerkonvents, einer industriefinanzierten Markt-Initiative und einer von den katholischen Bischöfen berufenen Professorengruppe bewiesen. Aber um welchen Preis? Den Durchbruch in der Nacht erzielte wohl eine Arbeitsgruppe aus viereinhalb Parteivorsitzenden, drei Ministerpräsidenten und einem Fraktionsvorsitzenden, die nicht dem Ausschuss angehören. Das starke Gewicht der Parteien sowie die Parteienkonkurrenz haben offensichtlich die Willensbildung in der Vermittlung zwischen Bundestag und Bundesrat überlagert. Beschämend und lächerlich ist der erbitterte Streit zwischen den Parteien, Fraktionen und staatlichen Organen und innerhalb derselben einerseits und dem Rechenfehler anderseits, der den nächtlichen Marathon zum Dorftheater entarten lässt. Der Reformkompromiss ein politisches Phantom?

Der Reformkompromiss spiegelt unverfälscht die Defizite des Agenda-Verfahrens. Vollmundig und ellenbogenstark wurde im März ein Aufbruch verordnet: Deutschland bewegt sich. Man übte auf widerständige Mitglieder der Fraktion und Partei Druck aus und nötigte sie zur Zustimmung. Das Tempo der Gesetzesvorlagen und Abstimmungen ließ kaum abwägende Überlegungen zu. Die Agenda war ohne Alternative. Die Sozialdemokratie bot den bürgerlichen Parteien beide Hände, soziale Einschnitte durchzusetzen, vor denen Helmut Kohl noch zurückgeschreckt war.

Die Opposition reagierte mit einem Überbietungswettbewerb: Weitere Aushöhlung beim Kündigungsschutz, weitere Entgrenzung der Zumutbarkeit. Folglich konnte sich die politische Klasse auf ein Reformspektakel einigen, das die Lebenslage der schwächeren Mitglieder der Gesellschaft verschlechtert. Das Verteilen der Beute, die man den Arbeitslosen und Sozialhilfeempfängern entrissen hat, als soziale Gerechtigkeit zu definieren, grenzt schon an sozialdemokratischen Zynismus.

Dass eindeutige Verlierer im Ring zurück bleiben, ist offenkundig: diejenigen, die sich nicht mehr auf einen Kündigungsschutz verlassen können und die anderen, die durch Arbeitsangebote, die bisher als unzumutbar galten, in eine Abwärtsspirale der De-Qualifikation getrieben werden. Die Rentnerinnen und Rentner, die zu einem Einkommensverzicht genötigt werden, der bei den Beitragszahlenden keine höhere Konsumneigung und damit wirtschaftliches Wachstum auslöst. Außerdem die Kranken und Versicherten, die zur Kasse gebeten werden, ohne dass sie die Steuerungsdefizite des Gesundheitssystems beeinflussen können. Die Kommunen, die mit dem leeren Versprechen einer Gemeindefinanzreform abgefunden werden. Und schließlich die erwerbstätige Bevölkerung, die zusehen muss, wie ein Teil des von ihr erarbeiteten Bundesvermögens in die Kassen privater Anteilseigner fließt.

Was als Reform propagiert wird, ist die Deformation der Solidarität: Gesellschaftliche Risiken werden individualisiert; ihre Absicherung auf die private Vorsorge abgewälzt. Grundrechtsansprüche werden in private Tauschverhältnisse überführt. Ein weiterer Schritt in die Polarisierung der Gesellschaft ist vollzogen.

Professor Dr. Friedhelm Hengsbach S. J. ist katholischer Sozialethiker, lehrt an der Philosophisch-Theologischen Hochschule St. Georgen in Frankfurt und ist Träger des Gustav-Heinemann-Preises


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