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Wartezone 107 Ich schlage die Augen auf und warte. In langen Gängen warte ich und auf harten Stühlen. Neben mir äußern sich Menschen. Sie husten und flüstern und ...

Ich schlage die Augen auf und warte. In langen Gängen warte ich und auf harten Stühlen. Neben mir äußern sich Menschen. Sie husten und flüstern und schlagen Zeitungsseiten knisternd um. Sie stehen auf und rauchen.

Alle, auch ich, wollen durch eine bestimmte Tür und hinter ihr die eigenen Angelegenheiten regeln. Wir haben uns damit abgefunden, dass nur einer nach dem anderen hineinkann. Mit einer roten Nummer auf dem Display rufen sie nach dem, dessen Recht es ist, der Nächste zu sein. Ich beneide ihn. Er scheint es nicht zu bemerken.

Wir sind eine zerstückelte Schlange, die Teile wollen nicht zueinander gehören. Vorn löst sich eins und hinten schließt sich wieder eins an. Menschen ohne Jacke und mit Akten im Arm öffnen die verschlossene Tür. Sie haben einen Schlüssel aus Stahl, wir haben ein Papier mit einer Nummer. Sie sind im Vorteil und sich dessen bewusst. Augen, die nach Abwechslung suchen, folgen ihren Schritten.

Die Zeit kriecht über den Flur. Ich sitze immer noch auf dem gleichen Stuhl. Obwohl ich mich nicht bewege, rücke ich langsam vor. Die Beine wollen mitlaufen, doch sie dürfen nicht. Meine Angelegenheit hält mich fest.

Die Tür, hinter der ich sie zu erledigen hoffe, ist nur ein stilles Stück Holz. Doch die Öffnung, die sie verschließt, ist die Entlassung aus dem Zeitgefängnis und der Eintritt in den Fortschritt.

Eben habe ich mich zum wiederholten Male in mein Schicksal ergeben, da ist die Reihe an mir. Wahrscheinlich werde jetzt ich beneidet. Aber ich bemerke es nicht, weil ich alle schon vergessen habe, bevor ich die Tür erreiche. Sie sind sowieso erst nach mir gekommen. Ich habe sie nie eines Blickes gewürdigt.

Den Stuhl, auf dem ich Platz nehme, fühle ich nicht mehr und trage endlich meine Angelegenheit vor. Erleichtert will ich aufstehen und den Ort befreit verlassen, da trifft mich ein Satz wie eine lange Latte: »Sie sind hier falsch, Sie müssen in Wartezone 107.«

Proteste, man habe mich hier hergeschickt, prallen ab, als hätte ich einen Bildschirm vor mir.

»Wartezone 107« schallt es in meinem Ohr und ich weiß es plötzlich ganz genau: An diesem Tag will ich nicht noch einmal der Letzte sein. Ich verlasse das Gebäude im Eilschritt.

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