Was seit 1945 nicht geschah

Geschichte Nur wer zur "Volksgemeinschaft" gehörte, blieb von ihr verschont: Das jüdische Museum widmet sich in einer Ausstellung der Zwangsarbeit während der NS-Diktatur

„Endlich! Endlich ist es so weit. Wir sind frei! Aber man weiß nicht, was noch alles passieren kann.“ In den Tagebuchnotizen der 17-jährigen Gabriela Knapska vom April 1945 steckt trotz aller Euphorie ein Zweifel. Die Polin war ab 1941 bei der Firma Telefunken in Lodz zur Arbeit gezwungen worden. Drei Jahre später wurde sie mit ihrer Zwillingsschwester Jolanta nach Berlin, später nach Ulm verschleppt. Im November 1945 kehrten beide in ihre Heimat zurück.

Gabriela Knapska sollte mit ihren Bedenken Recht behalten. Die Alliierten verurteilten Zwangsarbeit zwar als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, aber der Weg zu moralischer und politischer Anerkennung der Zwangsarbeiter war durch Diskreditierung und Ignoranz geprägt. In der Sowjetunion bezichtigte man sie der Kollaboration. In ihren Heimatländern stand man ihrem Schicksal oft gleichgültig gegenüber, fand Ansprüche unberechtigt. In Deutschland empörte man sich über „lästige Kostgänger“ und sah keine Verpflichtung, sie zu entschädigen.

„Das Thema wurde in der Bundesrepublik bis in die achtziger Jahre nicht aufgearbeitet“, erfährt man auf einer Führung durch die erste umfassende Ausstellung, Zwangsarbeit. Die Deutschen, die Zwangsarbeiter und der Krieg. Von 1933 bis 1945 mussten über 20 Millionen Menschen, darunter auch die Schwestern Knapska, Zwangsarbeit in Deutschland und den okkupierten Gebieten leisten. Die Daimler Benz AG unterhielt etwa einen der größten Betriebe in Osteuropa: In ihren Reparaturwerkstätten für Fahrzeuge der Wehrmacht in Minsk arbeiteten über 5.000 zwangsrekrutierte Beschäftigte. Ab 1942 wurde Zwangsarbeit zum Massenphänomen; Millionen Menschen wurden verschleppt und auf Bauernhöfen, Baustellen, in Betrieben oder Privathaushalten eingesetzt. Die Verfügbarkeit über diese Arbeitskräfte war ebenso Wirtschaftskalkül wie zentrales Element für den Krieg.

Die Ausstellung fächert Zwangsarbeit als Gesellschaftsverbrechen auf. Sie richtet mit repräsentativen Fallbeispielen und Dokumenten den Blick auf Handlungsspielräume in der Bevölkerung, auf die Beziehung zwischen denen, die sich zur „Volksgemeinschaft“ zugehörig fühlten – also den Deutschen, die im 1935 etablierten „Reichsarbeitsdienst“ ideologisch geschult und auf den Krieg vorbereitet wurden – und denjenigen, die als Ausgeschlossene politisch oder rassistisch motiviert der Zwangsarbeit unterworfen wurden. Vor aller Augen.

Zudem ein auf Fotografien erstaunlich gut dokumentiertes; die antisemitische Zeitung Der Stürmer rief Leser dazu auf, Fotos und Briefe von Demütigungen einzusenden. Diesem Aufruf zur Hetze folgten etliche Hobbyfotografen. Einer solchen Sendung entstammt das Plakatmotiv der Ausstellung. Es zeigt einen Deutschen in Uniform, der im Herbst 1939 einen Juden in Polen schikaniert. Andererseits versuchten die verschleppten Frauen und Männer, ihre Familien mit Briefen und idyllisch inszenierten Fotos zu beruhigen. Kritisches über die Lebensbedingungen vor Ort hätte die Angehörigen sowieso nicht erreicht – die Post wurde zensiert. Die Zwillingsschwestern Knapska verschickten 1944 ein koloriertes Porträt von sich mit den Zeilen: „Für die liebste Mutti zur Erinnerung an ,zwei Katzen aus dem Urwald‘“.

Zwangsarbeit Internationale Wanderausstellung. Bis 30. Januar im

Jüdischen Museum Berlin

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