Auf in eine geschlossene Welt: Lesevergnügen mit "The Circle"
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Nein, das müssen Sie nicht unbedingt lesen", stellte gestern Eamon Bailey, einer der sogenannten Drei Weisen vom Circle, in einer Videobotschaft gutgelaunt klar und meinte damit den Roman über die von ihm mitbegründete Gesellschaft:
"Bei uns muss überhaupt niemand unbedingt irgendwas, ok? Wir sprechen lieber von 'Halbpflicht'. Sie bekommen drei Einladungen, The Circle zu lesen, erst dann schalten wir Sie vom Netz ab. Schlimm? Nein! Sie kriegen dann sogar noch drei weitere Einladungen und können das Buch immer noch im Netz lesen. Nun ja, wenn Sie das nach der sechsten Einladung immer noch nicht getan haben, hm: dann müssen wir leider Ihr Bankkonto und ihre Kreditkarten sperren – sorry, aber das ist doch total transparent, oder? Theoretisch können Sie
ch können Sie ja sogar das noch überleben: Sie müssen halt Bargeld haben und einen der letzten Läden finden, der noch Nicht-Leser bedient, richtig?"Bailey räumte allerdings ein, dass Lebensmittelläden, an deren Tür nicht der Hinweis "Wir lieben es, The Circle-Leser zu bedienen" hängt, immer seltener werden, und in Läden, in denen dieser Hinweis hängt, werden Nicht-The Circle-Leser natürlich nicht bedient, "das ist doch total transparent, oder?"In diesen Läden, also fast allen, müssen Kunden, die bar zahlen wollen, ihre Lesernummer angeben, um nachzuweisen, dass sie bei beim Lesen mindestens bis Absatz 278 gekommen sind – denn selbstverständlich kann man The Circle nur im Netz lesen; Papier sei nun einmal, so Bailey weiter, ein veraltetes, asoziales, also wirklich trauriges Medium, und die illegale Papierbuchausgabe, die mancherorts noch zirkuliere, sei schon daran als Fälschung zu erkennen, dass sich ein gewisser Dave Eggers darauf in betrügerischer Weise als ihr Autor ausgebe.Post vom ModeratorIch folgte natürlich schon der ersten Einladung in die Lesercommunity – das ist noch besser als früher Radiohören oder Fernsehschauen, was ja auch so viel Spaß machte, weil man sich zumindest vorstellen konnte, dass man gerade nicht der Einzige war, der sich den Tatort anschaute oder Zündfunk hörte. Noch besser ist das The Circle-Lesen, weil man dabei immer genau weiß, wer gerade sonst noch liest – einmal war ich zum Beispiel einer von 78 männlichen heterosexuellen Bayern zwischen fünfzig und sechzig, die gleichzeitig lasen. Natürlich grüßte ich sogleich die 77 anderen und wurde von 75 zurückgegrüßt – die beiden Nichtzurückgrüßenden erhielten Post vom Lesercommunitymoderator, das sei ja nun echt asozial.Eigentlich kann ich mir gar nicht mehr vorstellen, einen Roman allein zu lesen. Walter Benjamins Geschwafel von der Geburtskammer des Romans in der Einsamkeit ist wirklich out, der meinte wahrscheinlich Romane in Papierform. Die Unterstreichungen meiner Mit-Leser (die man ja schon aus archaischen kindle-Zeiten kennt) sagen mir zum Beispiel, worauf ich mich konzentrieren muss: Eine Passage, die es noch nicht einmal auf tausend Unterstreichungen gebracht hat, kann ich schnell überfliegen; erst ab zehntausend wird es so richtig wichtig.Es ist natürlich halbverpflichtend, den Figuren des Romans ein smile oder frown zu geben – wer das nicht tut, kann eine Weile weiterlesen, wird aber nach der fünften vergeblichen Einladung vom Zugang zum Roman gesperrt, und dann geht es von vorn wieder los. Es macht aber auch wirklich Spaß, die Figuren zu bewerten: Annie, die ja am Ende des Romans im Koma liegt, schwankt zwischen 98 und 99 % smiles; Mae kommt ziemlich genau auf die 97 %, die sie auch innerhalb des Romans erreicht – womit sehr schön bewiesen wird, dass dieser stimmt.Recht gut sind auch die Sympathiewerte für Cathy, die um die 96 % pendeln. Krittelige Leser mögen einwenden, dass im Roman doch gar keine Cathy vorkomme. Aber es ist doch sehr wahrscheinlich, dass es unter den 10.041 Angestellten des Circle, von denen der Roman erzählt, ohne dass er sie alle namentlich nennen kann, trotzdem mindestens eine gibt, die Cathy heißt, oder? Jedenfalls ist der Circle nicht so ein Netzwerk von Fröhlichtuern wie damals Facebook, wo man ja immer nur liken, nie disliken konnte: Mercer zum Beispiel, der ein ziemlich sturer Hinterwäldler ist, weil er den Circle ganz ablehnt und vergeblich versucht, ihm zu entkommen, bringt es auf 95 % frowns, und die 5 % smiles erhält er wohl nur von Mitleidsduslern (weil er doch am Ende tödlich verunglückt). Aber auch Ty, derjenige der Drei Weisen, der anfangs die entscheidenden Ideen hatte, jetzt aber komisch reaktionär geworden ist und den Circle ausbremsen will, bekommt trotz seiner grauen Haare und seiner hohen sexuellen Attraktivität nur 7-16 % smiles; bei ihm schwanken, wie man sieht, die Sympathiebekundungen auffallend stark.Aus kritischer DistanzAußerdem sollten The Circle-Leser natürlich Diskussionsforen zu Aspekten des Romans beitreten oder neue gründen. Am beliebtesten sind die zu den Themen Vegetarianismus, obwohl sich doch der Roman darüber lustig macht, und Tierrechte, obwohl doch die Passage, in der ein Hai einen Oktopus und einige Seepferdchen frisst, bloß eine ziemlich dick aufgetragene Allegorie ist.Ich bin in keinem dieser beiden Foren, aber in sieben anderen, und deshalb schaffe ich es nicht mehr, nebenher noch für literaturwissenschaftliche Zeitschriften zu schreiben, die es aber auch nicht mehr lange geben wird. Sehr kontrovers ist das Forum "Grauhaarige Männer diskutieren Tys Reformpläne".Als mein Arbeitgeber, der Universitätspräsident, mitbekam, dass ich Mitglied in diesem Forum bin – denn natürlich interessiert sich die Verwaltung der Universität für das The Circle-Leseverhalten ihrer Angestellten, das ist ja total transparent –, erhielt ich eine wohlwollende Mail, derzufolge es zweifellos das Recht, ja nachgerade die Halbpflicht von älteren Intellektuellen sei, den Circle aus einer gewissen kritischen Distanz zu beobachten; er müsse aber auch daran erinnern, dass die Universität ohne den Circle zusammenbrechen würde, angefangen damit, dass das Vorlesungsverzeichnis und die Noteneingabe über dessen Netz laufen.Natürlich funktioniert das Lesen nur bei eingeschalteter Webcam, damit sich alle Leser jederzeit gegenseitig beim Lesen zuschauen können. Am meisten Spaß macht es, auf einem neunteiligen Bildschirm sieben andere Leser zu beobachten und rechts unten den Leserchat zu öffnen, in der Mitte ist dann immer noch Platz für den Text des Romans.Ich finde die totale Transparenz inzwischen so gut, dass ich, kaum aus dem Bett aufgestanden, hemmungslos im Schlaf-T-Shirt und unrasiert lese – zumal ja heutzutage auch auf den Straßen noch abends Leute in T-Shirts und unrasiert herumlaufen, als seien sie gerade aufgestanden.Allerdings bekommt man dann viele Anfragen zu bevorzugten Rasierapparaten und T-Shirts, die zu beantworten halbverpflichtend ist (d.h. man kann immer eine von zwei ignorieren, ohne vom Lesen ausgeschlossen zu werden). Trinke ich Kaffee, konkurrieren Nespresso, Jacobs und Lavazza miteinander um das erste Pop-Up auf meinem Bildschirm; vom Biertrinken während des The Circle-Lesens sei grundsätzlich abgeraten, es gibt einfach zu viele Brauereien.MarihuanaDass ich beim Lesen viel rauche, hat mir zum Einen schon 1.679 frowns (sowie 2 smiles) von Mit-Lesern eingebrockt, zum Anderen zwar keine Werbung für Zigaretten – übrigens gibt es in dem ganzen Roman keine einzige rauchende Figur, ja noch nicht einmal eine ausdrückliche Erwähnung dessen, dass niemand raucht –, dafür aber eine nicht abreißende Folge von Hinweisen auf meine großartigen Chancen, mit dem Rauchen aufzuhören (Hypnotiseure, Rauchaufhörerchats, Kaugummis, usw.). Besser ist es, seit ich meine Zigaretten so drehe, dass sie wie joints aussehen: Jetzt muss ich nur noch alle zwei Stunden einen Aufruf zur Legalisierung von Marihuana anklicken.Die Notwendigkeit der Kommunikation mit Leuten, die gerade nicht The Circle lesen, wird überschätzt; ich gehe zum Beispiel nur noch sehr selten spazieren. Neulich traf ich allerdings unter der Brudermühl-Brücke meine ehemalige Kollegin Maya Hügeler-Strom, in einem recht verwahrlosten Zustand, neben einem zerfletterten Exemplar der eingangs schon erwähnten illegalen Papierbuchausgabe von The Circle.Sie erzählte, sie sei wegen ihres hartnäckigen Festhaltens an dem asozialen Medium erst aus der Fachvereinigung der Germanistik (die inzwischen in German-E-Sticks umbenannt wurde) ausgeschlossen worden, habe dann aus dem selben Grund ihren Job verloren, und schließlich sei ihr auch noch fristlos die Wohnung gekündigt worden, weil der Hausbesitzer durch die aufgestellten Bücher die Tragfähigkeit des Bodens gefährdet sah – dabei habe sie doch gerade mal sieben- oder achttausend Bücher besessen. Ich schenkte ihr mein Circle-Phone mit dem eingerichteten Zugang zu neuntausend Büchern im Netz, das sie aber verächtlich in die Isar warf.
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