Am Anfang war es nur ein kleines, zaghaftes Experiment zum Thema Bürgerschwarmintelligenz – in einer Zeit, da sich Piraten erfolgreich neue Partizipationsmodelle kapern, versuchte sich auch die Regierung daran. Doch der Zuspruch hat sämtliche Erwartungen gesprengt. Statt der erwarteten 200 bis 300 Ideen sind über die Internetplattform des „Dialogs über Deutschlands Zukunft“ seit 1. Februar bereits 9.000 Vorschläge eingegangen. Das Bundeskanzleramt scheint völlig überwältigt: Nach einem Notruf wurden inzwischen Dutzende Mitarbeiter aus dem Bundespresseamt abbeordert, um den massenhaft artikulierten Bürgerwillen in geregelte Bahnen zu schleusen.
Drei Fragen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel dem Wahlvolk online und offline gestellt: Wie wollen wir in den nächsten fünf bis zehn Jahren zusammenleben? Wovon wollen wir leben? Wie wollen wir lernen? Ersonnen hatten die Themenfelder Gesellschaft, Arbeit und Bildung im Mai 2011 diverse Experten, die in insgesamt 18 Arbeitsgruppen brüteten. Und den Experten werden letztlich die Vorschläge auch wieder vorgesetzt, die die Bürger noch bis zum 15. April über die Online-Plattform einreichen können. Sie müssen sichten und zusammenfassen, was auf der Abschlussveranstaltung im September präsentiert werden soll.
Von der vielfach beklagten Politikverdrossenheit der Bürger ist jedenfalls nichts zu spüren. Neben etlichen Späßen wie „Fitnesscenter zur Stromerzeugung verpflichten“ und populistischen Vorschlägen wie „Banker zu Spargelstechern“ finden sich viele ernst gemeinte Ideen unter den Einreichungen – wenn auch nur wenige, die wirklich den Blick in die Zukunft in zehn Jahren wagen.
Die Regierungsbeamten mühen sich nun, die Flut der Vorschläge so zu bearbeiten, dass die drei Expertenrunden zum jeweiligen Thema überhaupt einen Überblick bekommen können. Diese Experten bekommen lange Tabellendateien präsentiert, in denen die Ideen für eine künftige politische Arbeit zusammengefasst sind. Bei Interesse können sie sich bis zur Ebene des einzelnen Vorschlages hinunterklicken.
Lehrgeld gezahlt
Viel Erfahrung in direkter Online-Bürgerbeteiligung hatte das Kanzleramt nicht. Nun hat es mit dem Dialog über Deutschland eine Menge Lehrgeld gezahlt. Wichtig ist den Organisatoren jetzt vor allem, der Gefahr zu begegnen, dass viele Bürger sich frustriert abwenden, wenn sie merken, dass ihre Vorschläge in der Masse versandet sind.
Schon zum Start der Webseite lief nicht alles nach Plan. Da die eingereichten Vorschläge von Mitbürgern bewertet werden können, gab es eine Phase, in der Eingaben durch Mehrfachbewertung künstlich in die Höhe getrieben wurden. Fünf solcher Vorschläge mussten auf Null gesetzt werden, nachdem die Programmierung der Webseite überarbeitet worden war. Aktuell zeigt das Voting aber, dass die Bürger im Dialog über Deutschland die berühmten „heißen Eisen“ anfassen wollen: Mit Abstand führen die „offene Diskussion über den Islam“ (Leben), die Forderung nach einem bedingungslosen Grundeinkommen (Arbeiten) und die Einführung eines zentralistischen Schulsystems mit durchlässigen Schultypen (Lernen) im Bürgervoting. Schaut man in die eingerichteten Diskussionsforen, hat der Bürgerdialog bereits begonnen: Mit mehr als 7.000 Kommentaren findet die offene Debatte über den Islam auf der Webseite statt, fast ebenso intensiv wird das Grundeinkommen diskutiert. Beim Thema Leben erhitzt die Forderung nach vollkommener Abschaffung des Religionsunterrichtes die Gemüter.
Neben dem modernen Online-Dialog installierten die Politprofis vom Bundeskanzleramt auch offline drei „Bürgergespräche“ in Erfurt, Heidelberg und Bielefeld für die Bundeskanzlerin, die mit jeweils 100 Bürgern diskutierte. Diese Merkel-Auftritte, die im Youtube-Kanal der Bundesregierung in Ausschnitten zu sehen sind, sind an Bravheit schwer zu überbieten und spiegeln weit eher die klassische Form der Politikkommunikation wider.
Der Spiegel verspottete den Auftakt als „sorgsam arrangiertes Real-Life-Element“. Die Veranstaltung in Erfurt zeigte überdies, dass Ostdeutsche „eigenartige Positionen“ haben, wie dies ein Politprofi anschließend formulierte. So liegt die Frage auf der Hand: Ist das überhaupt ein Dialog über die Zukunft und nicht die übliche Selbstinszenierung?
Keine Dauereinrichtung
Die am Dialog beteiligten Experten äußern sich ganz angetan. Ulrich Klotz, einst Mitarbeiter beim Vorstand der IG Metall zum Thema neue Arbeitsformen, spricht von „sehr vielen, sehr guten Ideen“, die da eingesammelt wurden. Knapp 500 Vorschläge zur Zukunft der Arbeit muss seine Arbeitsgruppe sichten. Das Internetengagement der Bürger sieht Klotz als Indiz dafür, dass sich neue Politikfelder auftun. Den Dialog in den Foren vergleicht er mit den Prozessen, die Menschen dazu bringen, sich in der Piratenpartei zu engagieren. „Wir müssen lernen, mit diesem neuen Politikstil umzugehen, und die Ideen aufgreifen, die so präsentiert werden. Das Grundproblem ist die schiere Masse an Vorschlägen.“ Im Internetzeitalter angekommen, stellt sich beim Dialog über Deutschland prompt die Filterfrage: Wie siebt man aus, was bleibt unberücksichtigt?
Sollten die Experten am Ende die Themen nur in neuen Expertisen zum Besten geben, wäre der Dialog über die Zukunft von Deutschland die Werbeveranstaltung, als die er von Kritikern von Anfang an belächelt und verspottet wurde. Für ihre These spricht, dass bereits Anfang Juni ein hübsches Buch über den Dialog veröffentlicht wird, komplett mit Vorwort der Bundeskanzlerin. Die Experten aber tagen noch Monate danach weiter.
Ob die Vorschläge als offenes Wissensreservoir online stehen bleiben oder die Webseite mit der Abschlussveranstaltung abgeschaltet wird, ist derzeit ebenfalls noch unklar. Insgesamt stehen nur 1,5 Millionen Euro für den Bürgerblick in die Zukunft zur Verfügung. Das deutet nicht darauf hin, dass aus dem einmaligen Experiment eine Bürgereinrichtung mit Langzeitcharakter werden soll.
Detlef Borchers widmet sich als freier Journalist vor allem Internetthemen. Die Dialogseite: dialog-ueber-deutschland.de
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