Avantgarde oder Totengräber?

Die Lokführer und die Gewerkschaftseinheit Erleben wir die Vorboten eines Zeitalters der Sezession und Spaltung?

Verkehrte Welt: Bahnchef Mehdorn verteidigt die Einheit der Arbeiterschaft, die zu verhindern seine Kollegen von Siemens gestern noch Millionen ausgaben. Wirtschaftsliberale Medien, die nicht müde werden, Tarifflucht und Erosion des Verbandstarifvertrages als marktwirtschaftlichen Fortschritt zu preisen, warnen vor der "Atomisierung der Tarifverhandlungen". Und die politischen Freunde gewerkschaftlicher Konkurrenz im konservativen Lager geißeln das "Recht des Stärkeren" - als ob in einer marktwirtschaftlichen Ordnung je andere Gesetze gegolten hätten!

Entgegen aller öffentlichen Erregung sei Gelassenheit empfohlen. Rechtlich jedenfalls droht kein Unheil. Die viel beschworene Tarifeinheit ist eine Erfindung des Bundesarbeitsgerichts mit fragwürdiger Legitimation und abgelaufenem Verfallsdatum. Keinesfalls kann sie gegen das Grundrecht der Arbeitnehmer in Stellung gebracht werden, sich zu Gewerkschaften zusammenzuschließen und für die tarifvertragliche Festlegung ihrer Arbeitsbedingungen zu streiken. Diese Freiheit garantiert die Verfassung vorbehaltlos für "jedermann und für alle Berufe", auch für Minderheiten. Desgleichen verbietet es sich, das Streikrecht - wie vom Arbeitsgericht Nürnberg entschieden - gleich einem staatlichen Hoheitsakt hinsichtlich der mittelbaren Streikfolgen einer Verhältnismäßigkeitskontrolle zu unterwerfen. Der Streik soll ja gerade Druck ausüben, was zwangsläufig die Betroffenheit Dritter erzeugt. Und die ist in einer offenen Gesellschaft hinzunehmen, vollends unter einer Rechtsordnung, die eine unumschränkte Hoheit des Kapitals über Investitionen und Desinvestitionen sichert, ohne Rücksicht auf die mitunter desaströsen Dauerfolgen für Beschäftigte, Lieferanten, Gemeinden, ja ganze Regionen.

So weit, so Recht. Bleibt die politische Dimension: die Sorge um die Gewerkschaftseinheit angesichts des Agierens der Lokführergewerkschaft. Kein Zweifel, Sondervertretung und Spaltung stiften auf Dauer keinen Nutzen. Gewerkschaften wurden gegründet, um zu verhindern, dass Arbeitnehmer, Berufe und Belegschaften gegeneinander ausgespielt und in einen Unterbietungswettlauf getrieben werden. Doch verrät die öffentliche Debatte an diesem Punkt eine pharisäerhaft schiefe Optik. Wenn der Einheit zum Schaden der abhängig Beschäftigten Gefahr droht, so durch Dumpingkonkurrenz. Da gibt es Vereinigungen mit jeweils einer Handvoll Mitgliedern, deren Geschäftsführer sich andienen, geltende Tarifstandards zu unterschreiten. Ein anderes Beispiel bietet die Arbeitsgemeinschaft Unabhängiger Betriebsräte, vom Siemens-Vorstand ausgehalten, um der IG Metall das Leben schwer zu machen.

Als die rot-grüne Bundesregierung 2002/2003 die bis dato geltenden arbeitsrechtlichen Bindungen der Leiharbeit beseitigte, verankerte sie zum Ausgleich das gesetzliche Gebot, dass den Leiharbeitern Entgelt und Arbeitsbedingungen des jeweiligen Einsatzbetriebes zustehen; nur stellte der Gesetzgeber diesen Schutz unter den Vorbehalt abweichender Tarifverträge. Es kam, wie es kommen sollte; der Schutz währte nur eine historische Sekunde. Kaum war das Gesetz in Kraft, hatte bereits eine Arbeitsgemeinschaft christlicher Gewerkschaften im Verein mit einer Interessengemeinschaft von Verleihfirmen den gesetzlichen Schutz untergraben und einen Tarifvertrag mit Stundenlöhnen zwischen sechs und sieben Euro für qualifizierte Facharbeit vereinbart, unabhängig vom Einsatzbetrieb.

So viel zur real existierenden Gewerkschaftskonkurrenz, der das Bundesarbeitsgericht jüngst seinen Segen gab, indem es der christlichen Metallarbeitergewerkschaft, die gleichfalls nur durch Dumping-Verträge aufgefallen ist, die Tariffähigkeit zusprach. Nebenbei bemerkt: Die Arbeitsrichter werden uns den Widerspruch zwischen Verbotsverfügungen gegen Streiks der Lokführer und tarifrechtlicher Einsegnung der christlichen Gewerkschaften noch erklären müssen.

Standesverbände streiken nicht

Forderungen und Aktionen der Lokführer zielen dagegen in die umgekehrte Richtung und heben sich damit von der Unterbietungskonkurrenz wohltuend ab - erst recht in einem Land, das vor lauter Gehorsam die Demokratie verlernt. Wenn einzelne Beschäftigtengruppen für zusätzliche Verbesserungen aufstehen und dem Arbeitgeber Beine machen, ist das aus Sicht der abhängig Beschäftigten zunächst einmal nicht verwerflich.

Der Vorwurf unsolidarischen Verhaltens zu Lasten anderer Arbeitnehmer überzeugt jedenfalls nicht. Denn jeder Verteilungskonflikt verläuft auf zwei Ebenen. Mit dem Konflikt um die Verteilung der von allen erarbeiteten Erträge verbindet sich untrennbar der zweite Schritt: die Aufteilung derselben in den eigenen Reihen. Auch sie wird im Tarifvertrag geregelt, braucht also die Unterschrift der Arbeitgeber. Nicht zuletzt deshalb sind Entgeltstrukturen so zählebig. Die Unterbewertung von Frauentätigkeiten etwa beschert dem Arbeitgeber Kostenvorteile und bewirkt spiegelbildlich die relative Aufwertung von Männerarbeit. Jeder lineare Abschluss zementiert solche Diskriminierungen, was gern verdrängt wird. Einheitsdenken erzeugt mitunter auch Einheitslügen wie die feinsinnige Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenwiderspruch.

Dass nun speziell die Lokführer Grund zum Ärger haben, zeigen die Zahlen, die sie als die proletarischen Brüder der Piloten und Klinikärzte ausweisen. Mit einem monatlichen Bruttoentgelt von 1.822 bis 2.197 Euro (nach der jüngsten Tariferhöhung!) bewegen sie sich im unteren Drittel der DB-Tarifvergütungen. Die unterste Lohngruppe - die der Betriebsarbeiter - beginnt nämlich mit 1.486 Euro.

Gewerkschaftliche Apologetik ist des weiteren schnell mit dem Vorwurf der Standespolitik bei der Hand. Das überrascht nicht, nachdem den jüngsten Sezessionen von Fluglotsen, Piloten, Klinikärzten und nun der Lokführer Differenzen mit den ursprünglich federführenden Gewerkschaften vorausgegangen waren. Auch gab und gibt es Versuche, den eigenen Berufsverband durch Abgrenzung gegen die Gewerkschaft und die von ihr vertretenen Berufsgruppen zu profilieren. Das ist ärgerlich und kurzsichtig, trägt aber nicht den Vorwurf der Standespolitik. Standesverbände streiken nicht. Wer beißt schon in die Hand, die eigenen Dünkel nährt?

Nein, die genannten vier Beispiele waren und sind gewerkschaftliche Kämpfe. Das bestätigt ein Blick auf die Konfliktursachen, die bei aller Heterogenität Gemeinsamkeiten aufweisen. Sie gelten für Unternehmen, die entweder noch im Besitz der öffentlichen Hand oder aus öffentlicher Trägerschaft hervorgegangen sind und deren Tarifbedingungen denen des Öffentlichen Dienstes zumindest angenähert waren. Doch sind diese Einrichtungen seit Jahren Privatisierungen ausgesetzt - die Krankenhäuser zusätzlich verschiedenen Wellen der Gesundheitsreform mit der Folge chronischer Unterfinanzierung. Reagiert wird darauf mit Stellenstreichung, Leistungsverdichtung, Ausgründungen, Dumpingkonkurrenz, Tarifabbau. Wenn die Betroffenen dann auch noch berufsspezifische Ungerechtigkeiten erfahren und mit der Missachtung der eigenen beruflichen Leistung konfrontiert werden, empören sie sich zu Recht.

Doch auch der so begründete Protest artikuliert sich in der Regel erst im kollektiven Konflikt, wenn die getroffene Berufsgruppe über entsprechende Konflikt-Ressourcen verfügt, wie Mitgliedschaft in einem berufsbezogenen und identitätsstiftenden Verband mit hohem Organisationsgrad, wie betriebliche Schlüsselqualifikationen und -funktionen sowie ein entsprechendes Selbstbewusstsein.

Das Stärkste, was die Schwachen haben

Dabei sind Piloten, Fluglotsen, Klinikärzte und Lokführer nicht die Vorboten eines Zeitalters des gewerkschaftlichen Partikularismus. Mit ihnen scheint das Feld abgesteckt; andere Berufsgruppen mit vergleichbaren Ausgangsbedingungen sind derzeit nicht in Sicht. Umgekehrt ist ver.di auf dem Weg, eine der jüngsten Sezessionen wieder rückgängig zu machen. Als sich 1992 die Flugleiter von ÖTV und DAG (Deutscher Angestellten-Gewerkschaft) abspalteten und einen eigenen Verband gründeten, die Unabhängige Flugbegleiterorganisation (UFO), geschah dies aus Unzufriedenheit mit beiden Gewerkschaften und in der Erwartung, am Glanz der Vereinigung Cockpit teilhaben zu können. Daraus wurde nichts; stattdessen missbrauchte die Lufthansa den neuen Verband als Partner für Tarifabbau gegen ÖTV und DAG. Heute ist die UFO auf gut die Hälfte ihrer ursprünglichen 10.000 Mitglieder geschrumpft; ver.di hat wieder Fuß gefasst und tarifpolitische Erfolge erzielt, dieser Tage mit Air Berlin.

Natürlich laufen Massenorganisationen immer Gefahr, Mitgliedergruppen, die eher an der Peripherie stehen, nicht angemessen wahrzunehmen. Das kann auch qualifizierte Berufe betreffen. Doch gerade in Zeiten, in denen die Arbeitswelt sich ausdifferenziert, ist es ein Gebot authentischer gewerkschaftlicher Interessenwahrnehmung, sich auf die spezifische Lage, die unterschiedlichen Lebenslagen, Sorgen und Hoffnungen der einzelnen Beschäftigtengruppen einzulassen. Für viele hat der Beruf unverändert einen hohen Stellenwert; hier müssen die Gewerkschaften präsent sein und professionelle Unterstützung anbieten.

Die Angehörigen solcher Berufe, die meinen, allein besser zu fahren, seien daran erinnert: Man sollte nie vergessen, dass die eigene Qualifikation, der betriebliche Aufstieg und die berufliche Kompetenz auch auf der täglichen Zuarbeit all derer beruhen, die nicht die Gunst qualifizierter Ausbildung und beruflicher Karriere genossen haben. Das verpflichtet zu Solidarität. Man mag das als Moral abtun, sollte jedoch an den unverändert gültigen Satz erinnern: Die Gewerkschaft ist das Stärkste, was die Schwachen haben.

Der Autor war von 1992 bis zum Übergang in die Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft ver.di Vorsitzender der IG Medien. Bei der ver.di-Gründung im März 2001 in Berlin kandidierte Hensche nicht mehr für eine Gewerkschaftsfunktion. Er arbeitet seither als Rechtsanwalt in Berlin.

Die ungekürzte Fassung findet sich in der September-Ausgabe der "Blätter für deutsche und internationale Politik" (www.blaetter.de), deren Mitherausgeber Detlef Hensche ist.


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