Wer einmal die Reichenbacher Straße in Zwickau vom modernen Hotel am Stadtrand bis zum Hauptbahnhof entlang gelaufen ist, braucht im Grunde genommen Wolfgang Kils Zustandsbericht über die Verödung ostdeutscher Städte durch Abwanderung nicht mehr zu lesen. Er ist durch Anschauung "geheilt". Vor allem von Visionen und Hoffnungen. Der Spaziergänger geht an einer Industriesiedlung vorbei, deren braun gewordene Backsteinhäuser mit offenen Fensterhöhlen grüßen, aus denen zuweilen noch eine Gardine weht. Im Sinne jenes Witzes, in dem jemand fragt, wo es denn zum Aufbau Ost gehe: "Immer den Bach runter."
Diesem zutreffenden Stimmungsbild gibt der Autor jedoch nicht nach, sondern er fragt zum Ende seiner minutiösen Auflistung des Verfalls, der Abrisse vor allem von Plattenbauten in Schwedt, Hoyerswerda, Halle-Neustadt, Dessau und vielen anderen Mittel- und Großstädten des Ostens nach dem Danach. Kil fordert einen Paradigmenwechsel vor allem bei Architekten, deren klassisches Funktionsverständnis immer noch im Füllen von Stadträumen besteht und die in den schrumpfenden Städten eine große Niederlage ihres Berufsstandes zu erfahren glauben. Diesem aus vielen guten Gründen resignierenden Verhalten setzt er ein kreatives Dennoch entgegen und erinnert an die 1972 erschienene Globalexpertise des Club of Rome mit dem Titel: Grenzen des Wachstums.
Wie jeder weiß, hat dieser Bericht außer einem kurzfristigen Erschrecken nicht viel bewirkt, weshalb der Autor jetzt eine zweite Chance sieht, das Ruder herumzuwerfen. Der "Leitbildwandel", der sich auf den Ruinen der geschundenen Ost-Städte ergeben könnte, erfordert nach Kils Überzeugung nicht nur Kraft, sondern auch Stehvermögen. Er hofft auf die Neugier der Betroffenen, auf deren Nutzung bisher ungeübter Freiheiten. Die Freisetzung aus dem Gewohnten als Freiheit für neue Lebensalternativen im Sinne jener "Slow Cities", wie sie sich in Italien zeigen. Dort haben sich fast 50 Kommunen zur "Bewegung der langsamen Städte" zusammen geschlossen, um der uniformierten Fülle an globalen Angeboten, die letztlich nur eine spezifische Form der Leere ist, lokale Produktion und Waren entgegenzusetzen. Der Reiz dieser Entwicklung bestünde darin, dass es in Italien der Überfluss war, der solche Entwicklung in Gang setzte, während in Ostdeutschland der Mangel an Menschen, Produktionsstätten und Entwicklungsperspektiven Anstoß für alternatives Denken und Handeln sein könnte.
Ähnlich wie der Berliner Soziologe Wolfgang Engler in seinem Buch Die Ostdeutschen als Avantgarde setzt Wolfgang Kil ebenfalls auf kreative Potenziale in der ehemaligen DDR, auch wenn diejenigen, die handeln müssten, eigentlich "Modernisierungsverlierer" sind, die einstigen Chemiearbeiter im uckermärkischen Schwedt oder die abgebauten Bergleuter aus der Lausitzer Braunkohle. "Während in den unter Auszehrung leidenden Städten Lebensqualität unbeirrt an tradierten Urbanitätsidealen gemessen wird, gewinnt draußen ein Leben in der Leere bereits immer festere Konturen: Wer den großen Auswandererzug nicht schafft (oder sich ihm bewusst nicht anschließt), ist für die blindlings verheißene europäische Stadttradition nicht verloren", so die nach vorne offene Bilanz des Architekturkritikers. Kil definiert in diesem Zusammenhang den Begriff Landschaft neu, die Stadtlandschaft mit ihren Brachen und freigeschlagenen Schneisen rückt nach seiner Meinung eine Berufsgruppe wieder stärker ins Rampenlicht: Landschaftsplaner, Gärtner und Ökologen. So sollen mitten im gründerzeitlichen Leipziger Osten großräumige, nicht mehr "genutzte" Areale zur Bewaldung freigegeben werden.
Wer als Kind noch die Nachkriegszeit in Ruinenstraßen erlebt hat und die Fehler des Wiederaufbaus schmerzhaft erlebte, hofft, dass auch aus diesen Fehlern gelernt wird. Der Autor setzt in diesem Zusammenhang auf Lernprozesse der "Opfer". So traten zum Wettbewerb "Stadtumbau Ost" des Bundesbauministeriums 2002 zum erstenmal drei betroffene Städte, nämlich Ueckermünde, Torgelow und Eggesin gemeinsam mit einem kooperativen Entwicklungsplan an. Diese Region in Ostvorpommern, die durch die Schließung von Bundeswehrstandorten noch mehr als andere ostdeutsche Gebiete veröden wird, verteilt die verbleibende Infrastruktur kostensparend und entgeht so dem "Standortkannibalismus" (Simone Hain).
Wolfgang Kil rät den normsetzenden westdeutschen Verwaltungen, den bürokratischen Vorschriften für die "Gewährleistung gleicher Lebensformen" im vereinten Deutschland, die eh nur auf dem Papier stehen, zu entsagen. "Irgendwann wirkt übertriebene Unschuld auch kokett." Die Chance für den Osten Deutschlands (und vielleicht auch irgendwann für den Westen?) liegt nach Kil in der Disparität. Nachdem in den Wirren von Wende und Vereinigung häufig Einsteiger mit sehr unterschiedlichen Motiven in die Städte und Dörfer zwischen Warnow und Werra gekommen sind, wäre vielleicht heute die Zeit für Aussteiger, oder wie Kil zitiert: "Neugierige, Tatendurstige, die Zonen mit utopischem Potenzial suchen für soziale und gestalterische Experimente im Sichtschatten unserer kontrollierten Welt, wo Bauen und Lebenspraxis häufig noch eins sind. Wo Lebensräume durch Gebrauch und nicht durch Eigentum definiert werden". (Boris Sieverts).
Der Fluxus der Weggegangenen, die der Arbeit gen Westen hinterher wanderten, könnte somit für Kil zum "Luxus der Leere" werden. Und da seine Visionen auch stets einen lebenspraktischen Bezug haben, regt er an, diesen scouts des Neulands in den Neuen Ländern eine so genannte Stillegungsprämie zu spendieren, wie sie den Bauern der EU zusteht, wenn sie unter Beweis übergeordneter Interessen ihren Acker nicht mehr bestellen. Die Wohnungswirtschaft als growth machine hat im Osten sowieso längst jede Attraktivität verloren. Man braucht vier vermietete Wohnungen, um die finanziellen Ausfälle einer fünften, die leer steht, zu kompensieren. In diesem Punkt ist man längst jenseits von Eden. Der Konkurs ist eine Frage der Zeit.
Vor 15 Jahren löste die Flut der Flüchtlinge nach Westen bei den herrschenden westdeutschen Eliten noch Panik aus. Heute organisiert man in den fünf Ländern aus der Restbevölkerung ein gut versorgtes Feierabendheim. Da üben Kils aufbauende Thesen in einem Vorgang, der euphemistisch Stadtumbau genannt wird, eine geradezu befreiende Wirkung aus. Der gut geschriebenen Streitschrift, die mit den nüchternen Fotos des Autors den nötigen, erhellenden Kontrast erhält, wünscht man eine weite Verbreitung vor allem bei denjenigen Fachleuten, die es sich in den vier Wänden ihrer fensterlosen Überzeugungen bequem gemacht haben. Sonst könnte aus einem laissez faire dieser Schrumpfungsprozesse eine ungebremste Entwicklung werden, die nur den Rechtsradikalen zuarbeitet. Und die Überwindung dieses geistigen Leerstandes müsste vielleicht jeder in diesem Land teuer bezahlen. Das würde kostspieliger als jeglicher Stadtumbau.
Wolfgang Kil: Luxus der Leere. Vom schwierigen Rückzug aus der Wachstumswelt, Müller+Busmann, Wuppertal 2004, 159 S., 25 EUR
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