Besenkammer

WIR SIND DAS VOLK Enteignet das Privatleben der Beckers!

Besen, Besen, sei's gewesen. Ach, wer denkt nicht an Goethes Zauberlehrling, wenn er liest, dass Boris Becker seit neun Monaten Vater eines unehelichen Londoner Babys sein soll, das wahrscheinlich einen ganz unbiblischen Vornamen trägt. Womit er ein paar Tage vor Franz Beckenbauer liegt, den es zur Weihnachtsfeier 1999 trieb, ein Kindchen mit einer Sekretärin des Vereins zu zeugen. Vor den Vätern sterben die Idole. Aber wer hat sie dazu gemacht? Doch jene Blätter, die jetzt mit schlecht verhohlener Entrüstung mitteilen, dass die schöne Russin Angela Ermakowa und der Tennisstar, auch das Bobbele oder Boris Bum-Bum genannt, ihr Stelldichein in einer Besenkammer gehabt hätten. Freunden erzählte Angela laut dem britischen Massenblatt News of the world: "Er war wie besessen. Er riss mir alle Kleider vom Leib, ließ seine Hosen runter, küßte mich überall." Als er von dem Kind erfuhr, habe er Schweigegeld angeboten. Geschwiegen wird eher wenig. Der Zauberlehrling aus Leimen ist in die Meinungspresse geraten, und da wird er womöglich so wieder rauskommen wie Max und Moritz, nachdem sie der Müller erwischt hatte.

Gleich im Anschluss an die Serie "Grenzen der Erkenntnis" hat der Spiegel die Geschichte von Babs und Boris zusammen mit der neuen Affäre des auffälligen Handballers Stefan Kretzschmar und des Schwimmstars Franziska van Almsick in den Sportteil gepackt. Was immer man in diesem Zusammenhang unter Leistungssport versteht. Das Schicksal von Barbara und Boris Becker passt jedoch in jede Zeitungsspalte von Politik über Wirtschaft, Kultur bis Vermischtes. Das Traumpaar ist ein gesellschaftskompatibles Modell. In seinen 33 Meinungen über Boris Becker hat Harald Martenstein im Berliner Tagesspiegel (Kulturteil) darauf verwiesen, dass der erste Leitartikel, der einen Sinnzusammenhang zwischen "Boris" und "Sebnitz" herstellt, die Theo-Sommer-Medaille mit Schwertern und Brillanten gewinnt. Martenstein hat gleich einen möglichen Anfangssatz mitgeliefert: "Bei Boris Becker ist auch eine private Tragödie immer politisch, in Sebnitz dagegen erwies das Politische sich am Ende als privat...". Satire ist dann gut, wenn sie jene historisierende Verquastheit präzise beschreibt, der sich Deutsche gern ausliefern. Anfang der siebziger Jahre gab es in einer ADN-Bezirksredaktion der DDR einen älteren unauffälligen Redakteur. Irgendwann verglich ihn ein Kollege mit dem chilenischen KP-Chef Luis Corvalan. Der Redakteur ließ sich einen grauen Schnurrbart stehen wie sein großes, populäres Vorbild und wuchs in die neue Verantwortung. Als die Schauspielerin Gudrun Okras in einem DEFA-Film die Rolle der Clara Zetkin spielte, wurde sie am Ende der Premiere vom damaligen SED-Politbüromitglied Inge Lange derart ergriffen und fürsorglich von der Bühne geführt, als sei Okras die leibhaftige Wiedergeburt der kommunistischen Heroine.

An die Geschichten musste ich denken, als ich die wehmütigen Zeitungskommentare über die Trennung des Paares aus München-Bogenhausen las. Eine Nation hatte sich in der märchenhaften Vereinigung des blonden Recken und der farbigen Schönheit als Sinnbild einer emanzipierten, weltoffenen Gesellschaft gespiegelt. Man war wie die beiden. Barbara und Boris sind kommunaler Besitz, da mögen sie noch so sehr auf ein Recht zum Privatleben pochen. Freitag vergangener Woche titelte Bild "Babs allein in Miami" sowie "Boris und Sabrina in Berlin". Ein familiäres Millionenspiel. Tags darauf wurde schon eine schleimige Spur glegt, die Reporter des Blattes stellten fest, dass Becker und die schöne Sängerin Sabrina Setlur, deren Eltern aus Indien stammen, im selben Berlin Hotel abgestiegen waren. Es ging um die Verleihung des Bambi- nicht des Baby-Preises. Die Zeitung, deren Enteignung die Linken 1968 emphatisch gefordert hatten, enteignet selbst ganz gern, und zwar Privatheit. Die Boulevardpresse hat endgültig die traditionellen Meinungsmacher der politischen Magazine abgelöst, Bunte statt Spiegel. Boris ist politisch, Sebnitz ist privat. Und privat geht vor Katastrophe. Der Tennisstar wird sein negatives Wimbledon erleben, da kann er noch so oft mitteilen: "Ich werde hier keine Intimitäten aus dem Hause Becker verbreiten." Das werden schon jene Zeitungen tun, deren Auflage aus der Verbreitung jeglicher Intimitäten besteht. Was gerade die Kanzlergattin Doris Schröder-Köpf erfahren durfte, deren Tochter Klatschreporter in Hannover nachstellten. Mit einem Happy end á la Goethe wird man die tägliche Gerüchteflut nicht stoppen können, sondern nur mit der tröstlichen Gewissheit, dass in der nächsten Woche eine andere Sau durchs Dorf getrieben wird. Man muss auch vergessen können, sagt gönnerhaft das Volk.

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