Durch die Katakomben des Bahnhofs Friedrichstraße läuft eine schöne Nonne mit ihrer kleinen Tochter. Nicht weiter auffällig. Strebt das vergnügungssüchtige Pärchen doch direktemang, wie der witzige Berliner zu sagen geruht, Richtung Linden, wo nach 43 Jahren wieder ein Karnevalszug das Herz der Menschheit an der Spree erfreuen möchte. Wieder ist natürlich Quatsch, weil Unter den Linden noch nie "Helau" gerufen wurde, sondern höchstens massenhaft "Sieg Heil" oder "Drushba-Freundschaft". Das weiß ich deshalb so genau, weil ich 1958 an der Karl-Marx-Straße gemeinsam mit anderen Figuren stand und einen der wenigen Faschingsumzüge in Berlin sehen wollte. Der allerletzte fand ein Jahr später an der Tauentzienstraße statt. Mein damaliges Karnevalserlebnis ereignete sich jedoch beziehungsvoll in Neukölln, aber an Rufe wie "Neukölle, alaaf" kann ich mich nicht erinnern, nur daran, dass die ganze Angelegenheit ziemlich trostlos und deshalb unter Alzheimer abzuheften war.
Inzwischen vermittelt uns das neue Unternehmen, dass wir ein paar Jahrzehnte älter geworden sind, was genauso wenig lustig ist wie ein Karnevalszug, egal ob an Rhein oder Spree. Carne vale, adieu Fleisch, sagen die Falten, die in 43 Jahren kräftig zugenommen haben. Auch bei vielen Zeitgenossen, die am Rand der Linden stehen, manche mit aufgespannten, umgedrehten Regenschirmen, um möglichst viele Bonbons aufzufangen, die mit vollen Händen von den bunten Wagen in die Reihen der Diabeteskandidaten geworfen werden.
Der Zug startet pünktlich 13.11 Uhr am Brandenburger Tor, das seinerseits das 40 Jahre alte Mauerkleid gegen ein neues Kostüm getauscht hat, welches auf der Ostseite den Eiffelturm und auf der Westseite den Kreml zeigte und wohl noch zeigt. Die amerikanische Botschaft ganz in der Nähe ist von Stacheldraht umgürtet und mit Betonplatten gesichert, verdirbt aber den Leuten im Karnevalszug die Laune nicht. Über den Boulevard paradieren Pferde mit Polizisten drauf, nicht kostümiert. Ein älteres Individuum mit zerfressenem Gesicht und einem roten Papierhut plus goldener Medaille kann ebenfalls keinen Einfluss auf die Stimmung nehmen, nicht im Guten, nicht im Schlechten. Aus den Boxen fast aller Festwagen plärrt der Anton aus Tirol. "Wenn die Russen aus ihrer Botschaft gucken, denken sie, das ist der Anfang vom Ende", meint ein distinguierter Herr, der die Nervosität der slawischen Seele überschätzt. Gerade fliegen Schokotäfelchen durch die Luft. Mein Nachbar sammelt sie in eine Leinentasche mit der Aufschrift "Unternehmensgruppe TÜV Rheinland/ Berlin-Brandenburg". "Watt de Kölner können, können die Bärliner auch" schreit es von einem Transparent am Wagen des Karnevalsclubs Berliner Stadtgarde Rot-Gold. Gleich dahinter kommt ein Auto des Vereins der Aachener in Berlin, zumeist älteres Gemüse. Ein jüngerer türkischer Mitbürger lässt sich von seinem Freund mit einem Funkenmariechen der Garde "Roter Funke" fotografieren. Die Junge Garde marschiert weiter Richtung Rotes Rathaus. Von den Wagen brüllen ältere Herrschaften unentwegt "Berlin, heijo" herunter. Fünfziger-Jahre-Schlager wie der vom roten Gummiboot werden mäßig begeistert mitgesungen. Ein bejahrter Faschingsprinz aus Werder an der Havel teilt der Menge per Megaphon mit, wie toll es doch sei, dass nach 43 Jahren und so weiter. Viel Altberliner Milieu prägt die ganze Chose im Schatten des Denkmals vom alten Fritz. Ein Zille-Express aus Rixdorf rollt langsam dahin, die leicht versoffen wirkende Preußische Garde aus Berlin-Adlershof, dem Ort meiner Kindheit, der Theaterverein Gut Freund 1893 und eine grüne Klapperkiste mit der Aufschrift Pritzwalker Preußen-Pils.
Im Publikum manch Rheinländer und manche Rheinländerin, die es wohl nicht mehr geschafft haben, in den Känguruhbeutel der drei tollen Tage daheim zu kriechen, und nun erwartungsvoll ein wenig herumfrieren im verschneiten Berlin. Fast am Ende des Zuges rollt die "Ständige Vertretung" heran, jene Opportunisten, die schon vorm Umzug ihre gleichnamige Kneipe in der neuen alten Hauptstadt aufmachten, nachdem sie bis dato wehmütig-aggressiv pro Bonn blökten. Es muss auf sie ein wenig niederschmetternd gewirkt haben, dass gleich hinter ihnen der Schlusswagen kam mit Tschingderassabumm aus der einstigen Heimat und einer überlauten Knatterstimmenbotschaft "Die neue Karnevalshochburg heißt Berlin!"
Da sei Gott vor oder der Kanzler, der den Exregierungssitz voll Mitgefühl desavouierte, als er sich dort vor einigen Tagen mit Karnevalsorden dekorieren ließ. Chefsache Klamauk. Berlin reagierte gelassen, wie es so seine Art ist.
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