Mindestens zweimal pro Jahr tauchte Onkel Fredi aus Dortmund bei meinen Schwiegereltern in ihrer Eichsfelder Wassermühle auf. Der Gast aus dem Westen brachte Zigaretten, Schokolade, Südfrüchte und andere erwünschte Dinge in den Osten mit. Vor allem aber kam er mit einem unerschütterlichen Markenbewusstsein an den Tisch der Gastgeber. Als einmal von der Schwiegermutter frisch ausgemachte Kartoffeln, ein gerade geernteter Rotkohl aus dem Garten und eine soeben geschlachtete Ente ein ebenso vorzügliches wie landschaftsauthentisches Mittagsmahl ergaben, meinte Onkel Fredi belehrend: »Ihr solltet ma' Rotkohl von Hengstenberg kennenlernen und Kartoffeln aus'm Supermarkt, eine so groß wie die andere.« Mehr fiel ihm nicht ein, die Hausfrau reagierte gek
Die Onkelfredisierung des deutschen Gemeinwesens
BILANZ Zehn Jahre Vereinigung als ethnisches Abenteuer zwischen Ost und West
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gekränkt. Vermutlich zu Recht. Dabei hatte Onkel Fredi lediglich seine Treue zu Gewohntem demonstriert, ebenso mutig wie verletzend. 1988 besuchte er, dessen Vater auf Arbeitssuche 1930 vom Eichsfeld ins Ruhrgebiet gezogen war, zum letzten Mal die Heimat seiner Kindheit. Er rauchte eine Filterzigarette Marke Ernte 23. Mein Schwiegervater, der seinen Cousin nicht leiden konnte, machte etwas Gemeines. Er unterhielt sich mit mir über Kunst, eine Sache, von der Fredi nichts verstand und wo ihm kein Hengstenberg-Rotkohl half.Solche Onkel Fredis hat es vor der Wende in vielen Sorten und Facetten gegeben, gutmütige und arrogante, mutige und feige, geizige und großzügige. Sie waren fast immer willkommen und genossen wie der Dortmunder den Reiz, aus einer Fremde zu kommen, in die sie, im Unterschied zu den Besuchten, jederzeit wieder zurück konnten. Erstaunlicherweise hat sich die »Onkelfredisierung« des Ostens auch nach Maueröffnung und staatlicher Einheit fortgesetzt. Als die Leipziger Demonstranten immer lauter nach der D-Mark riefen und mit Massenflucht über die offenen Grenzen drohten, kamen mit der neuen Währung bald auch die neuen Rotkohlgläser und jene Kartoffeln, die sich wie ein Ei dem anderen glichen. Oder fast. Ostprodukte hatten es schon damals schwer. Das Berliner Nobelkaufhaus KaDeWe wagte im Sommer 1990 einen mutigen Schritt und verkaufte Knupperkirschen aus Werder an der Havel, einem traditionellen brandenburgischen Obstbaugebiet. Vielleicht waren die Kirschen bei Hengstenberg gerade ausgegangen.Die Wiedervereinigung war deshalb vor allem auch ein Sieg der bewährten Marken und der fortan geübten Markierungen. Hatte man gerade noch in der Bundesrepublik (alt) von den deutschen Brüdern und Schwestern gesprochen, worunter man auch geneigt war, eine Nervensäge wie Onkel Fredi zu subsummieren, tauchte buchstäblich in der Nacht des Mauerfalls eine Differenzmarke auf, von der zuvor niemand gesprochen hatte: die der Ossis und Wessis. Die zärtlich klingenden Diminutive haben sich als äußerst haltbare Etikettierung erwiesen, als Brandzeichen des Unterschiedes, der allerdings auch ohne diese einteilende Bezeichnung mit den Händen zu greifen ist.Als ich im Frühjahr ein Gespräch zwischen einigen Autoren des erfolgreichen Buches Das Buch der Unterschiede. Warum die Einheit keine ist moderierte, fragte mich ein Zuschauer, weshalb ich mich um ein solches Gleichgewicht zwischen West und Ost bemühen würde, die Marke Ost sei doch verschlissen und negativ, sie gehöre im Zeitalter der Werbung sofort abgelegt. Wenn es nur so einfach wäre! Schließlich wird der Osten in seiner ganzen Zerrissenheit, in seinen zivilisatorischen Umbrüchen seit über 60 Jahren, in seiner Unvollkommenheit als pädagogischer Background gebraucht, als »Klärgrube« eigener ungelöster Probleme des Westens, wie es der russische Schriftsteller Juri Sorokin kürzlich in der Süddeutschen Zeitung festgestellt hat. Die so unterschiedliche Landschaft zwischen Rügen und Thüringer Wald ist Missionsgebiet und Projektionsfläche unterschiedlichster Erwartungen geworden. Sie ist Ziel linker wie rechter Sehnsüchte. Menschen vom anderen Ufer der Elbe gehen dort ihren Träumen nach und treten bei Nichterfüllung enttäuscht die Heimreise an, was uns Zeitungen im Ton des Erziehers mitteilen. Die Zöglinge sind offenbar anders als erwartet. So fuhr der Stuttgarter Architekt Peter Grohmann gleich nach der Wende in Richtung Dresden, weil er dachte, dass die Leute dort »irgendwie« links seien. »Irgendwie« waren sie es ja auch, aber wie? Auch Grohmann musste rasch feststellen, dass es im Grunde gar nicht um Ideologie geht, sondern um Mentalitäten. Man bleibt unter sich, der »Mann von draußen«, mag er noch so gute Absichten haben, steht vor der Tür. Vielleicht liegt es an der Attitüde des Bringenden, vielleicht an seinen zu hohen Erwartungen an das Gastgebervolk. Dieser Tage war in einer Berliner Zeitung mit durchaus vorwurfsvollem Ton zu lesen, der Architekt ziehe nun nach Stuttgart zurück und freue sich auf seine alten Freunde und Projekte. Hoffentlich geht es ihm danach nicht wie jenem sowjetischen Juden, der nach langen Jahren endlich die Ausreise nach Israel genehmigt bekommt, aber bereits wenigen Wochen darauf repatriiert werden möchte. Kaum in Moskau zurück, will er wieder nach Israel, und von da aus in die UdSSR. »Wo gefällt es Ihnen denn nun eigentlich am besten?«, fragt ihn entnervt der israelische Pass beamte. »Unterwegs.«Es wäre schön, wenn im vereinten Deutschland mehr Menschen unterwegs wären, mit leichtem Gepäck und ohne gegenseitige Vorurteile. Wenn zum Beispiel der Schauspieler Klaus Löwitsch, der als Gast am Berliner Deutschen Theater den Richter Azdak in Brechts Kaukasischem Kreidekreis spielte, nach Problemen mit der Bühne nicht ganz Ostdeutschland dafür verantwortlich machen und seinen Onkel-Fredischen-Missionseifer ein bisschen herunterschrauben würde. Vermutlich haben auch ostdeutsche Schauspieler an westdeutschen Theatern manchmal ein paar Probleme. Auch die Demission der brandenburgischen Finanzministerin Wilam Simon, die Schwierigkeiten mit CDU-Ministern in der Koalition hatte, wird in den Medien als dramatischer Abgang aus dem Reich des Bösen geschildert. Mit derlei Attitüden wird man die aktuellen Probleme einer sich mühsam zusammenfindenden Gesellschaft nicht lösen. Vielleicht wäre es gut, die Nachkriegszeit des Kalten Krieges langsam zu beenden und nicht zu vergessen, dass die DDR vor allem von ihren eigenen Bürgern abgeschafft wurde. Dass der Krieg eigentlich vorbei ist, vergisst man, wenn man im Spiegel liest, dass jene Frankfurter Autorin Luise Endlich, die sich mit ihrem kritischen Buch über die Einwohner der Oderstadt viele Feinde gewann, jetzt in einen Bezirk »im Westen Berlins« gezogen sei. Berlin ist zum Glück bunter und gemischter, als es das Hamburger Magazin in seiner überlebten Dichotomie beschreiben möchte. Unabhängig davon, dass der Berliner CDU-Fraktionsvorsitzende Klaus Landowsky den Westteil gern als »Verlierer der Einheit« bezeichnet. Was die Frage provoziert, ob die Stadthälfte vorher »Gewinner der Spaltung« war. Wenn es so war, soll man es sagen, weil es zur Klärung der Verhältnisse abseits der Sonntagsreden beiträgt.Der Übergang der ostdeutschen Bevölkerung in den deutschen Einheitsstaat ist unter anderem deshalb so schwierig, weil ihnen die Propaganda der DDR in Schulen, Medien und theoretischen Schriften bis zum Erbrechen den Eindruck vermitteln wollte, sie sei der westdeutschen Gesellschaft historisch überlegen, während sie seit nunmehr zehn Jahren hört und liest, dass sie zum unterlegenen Teil der Gesellschaft gehört. Ein derartiges Wechselbad, das in beiden Graduierungen falsch ist, kann nur schwer ertragen werden. Es erklärt vielleicht die wachsende Feindschaft der Ostler gegenüber den herrschenden Verhältnissen, die sie in ihrer großen Mehrheit gewollt haben, und die Verklärung jener politischen Situation, die sie vor zehn Jahren abschafften. Sie ist die Quelle vieler böser Witze, denen ein Westdeutscher ratlos und verletzt gegenübersteht. Der Soziologe Wolf Wagner, der seit Anfang der neunziger Jahre in Erfurt lehrt, spricht von einer zunehmenden Ethnisierung der Deutschen. Werden wir in einigen Jahren nur noch von ostdeutschen und westdeutschen Ethnien im vereinten Staatswesen sprechen? Für das gegenseitige Auskommen wäre es womöglich erträglicher, wenn denn auch das Einkommen stimmt. Beispielsweise begründet die Spezies »Ostdeutsch« noch immer die Gehaltsunterschiede im öffentlichen Dienst, wie es gerade erst wieder durch ein Urteil des Bundesgerichtshofes bestätigt wurde. »Wer in der neuen Bundesrepublik überleben will, darf sich ihren Regeln nicht nur widerwillig beugen, er muss sie sich zueigen machen. Wer in einer Warengesellschaft existiert, kann sich der einheitlichen Warenwelt nicht entziehen. Unterschiede können nur noch abgelesen werden, wenn die einen sich etwas leisten können, von dem die anderen ausgeschlossen sind. Aber wo die Einkommen vergleichbar sind, wird die Warenfassade der Welt unterscheidbar«, schreibt ebenso hoffnungsvoll wie apodiktisch Wolf Wagner. Um fortzufahren: »In der neuen Bundesrepublik setzen die westdeutschen Eliten die Markierungen für das, was in dieser Gesellschaft als Erfolg und Ehre gilt. Wer erfolgreich sein will in Ost und West, muss sich nach diesen Marken strecken. Diese erzwingt von allen Anpassung und macht sie einander gleich.« So viel Realitätssinn hatten die Ostdeutschen 1990 leider nicht, als sie ihr standhaftes Wunschdenken in die deutsche Einheit mitbrachten. Muss man ihnen das zum Vorwurf machen? Wahrscheinlich ja. Aber es wäre für das Gesamtwesen besser, wenn sie selbst zu dieser Einsicht kämen, bevor sie sich ebenso glücklich wie entschlossen die Charaktermasken der neuen Zeit anlegen könnten, um endlich als Störenfriede der öffentlichen Wahrnehmung zu verschwinden. Wahrscheinlich wäre es hilfreich, statt in zahlreichen Talkshows über sie zu reden, sie einfach mitreden zu lassen. Aber es ist verständlich, dass eine selbst referentielle Mediengesellschaft derart Ungewohntes, zumeist auch Langweiliges und schlecht Artikuliertes ungern erträgt. Die gesellschaftliche Gefahr liegt darin, dass sich ein Viertel der Bevölkerung dieses Landes wieder frustriert in private Nischen zurückzieht. In solchen Nischen wachsen Vorurteile und die Logik der Hermetik. Aber wer öffentlich nicht vorkommt, sieht keinen Grund mehr, aus der selbstgewählten Nische wieder vorzukommen. Weshalb es dringend erforderlich wäre, ein öffentliches Medium für die ostdeutsche Minderheit zu schaffen, das nicht den Gulaschgeruch der Stimmungskanone MDR besitzt und nicht die Drögheit märkischen Sandes vom ORB. Es müsste eine Anstalt zur Stärkung kritischen Selbstbewusstseins sein, die den nötigen Abstand zur eigenen Geschichte der vergangenen Jahrzehnte besitzt und zur Geschichte der Brüder und Schwestern im Westen.Vielleicht aber war der Begriff der Brüder und Schwestern von Anfang an falsch. Wenn sich Geschwister in einer Vernunftehe, wie Gesamtdeutschland häufig genannt wird, vereinen, muss es leider naturgemäß zu Inzucht kommtn. Die Früchte laufen baseballschlägerbewaffnet durch die Straßen und sind auf der Suche nach »national-befreiten« Zonen. Eine ziemlich traurige Bilanz, an der vermutlich auch Onkel Fredi aus Dortmund keine Freude hat.
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