Der Grenzübergang ist menschenleer, er ist fahrzeugleer. Die riesige Überdachung steht wie ein Hangar in der Landschaft. Auf deutscher Seite haben Hotels und Restaurants Bretter vor Tür und Fenster genagelt. Der "Sächsische Reiter" ist abgestiegen und hat Pleite gemacht. Die Zinnwalder sind vielleicht im ersten Moment froh gewesen, dass sich die Lastwagenkarawane nicht mehr durch ihren Ort schiebt, seit vor einigen Monaten der Grenzverkehr Richtung Südosteuropa kurz hinter Altenberg in einem Tunnel nach Tschechien verschwindet. Aber die herbeigesehnte Stille ist rasch zur Friedhofsruhe geworden, und Zinnwald stirbt mit.
Der alte, völlig überdimensionierte Kontrollpunkt steht nur noch den Fußgängern offen. Wir kämpfen uns am Silvesterabend du
erabend durch hohen Schnee an ihn heran. Warum soll für die paar Überläufer noch gefegt werden. Stalkerstimmung kommt auf. Unkontrolliert schlendern wir auf die andere Seite. Doch kurz davor stürzt ein Mensch vom Bundesgrenzschutz aus einer Tür. Vielleicht hat man vergessen, ihn abzulösen. Als wir unseren Ausweis zücken, winkt er ebenso desinteressiert wie generös ab. "Wird diese hässliche Konstruktion wenigstens bald abgerissen?" Auf die Frage meines Freundes antwortet der Grenzer, dass er aus Bad Düben abkommandiert sei und von all dem keine Ahnung habe. Eine sympathisch-rührende Hilflosigkeit der Staatsmacht. Von der tschechischen Seite kommt uns ein Besoffener entgegen, der ohne Pause Knaller in die leere Halle wirft, woran ihn niemand hindert. Vielleicht spielt er ein bisschen Krieg.Jetzt sind wir in Cinovec, früher Hinterzinnwald. Und hinterwäldlerisch sieht es tatsächlich aus. Verkaufsbude an Verkaufsbude reiht sich vor unseren Augen. Die tschechische Bevölkerung besteht einstweilen aus vietnamesischen Händlern, die erwartungsvoll vor ihre Türen treten, als sie uns bemerken. Vielleicht wollen wir einen Bierseidel kaufen oder einen Rucksack mit englischer Aufschrift. Wir wollen nicht. Die Händler ziehen sich verständnisvoll in ihre menschenleeren Geschäfte zurück und winken freundlich. Eine Geste nobelster Entsagung. Kurioserweise steht auf den Begrüßungsschildern vor den Geschäften auf Deutsch "Wir wünschen Euch". Nichts weiter. "Zum Teufel", ergänze ich für mich. Ein Geländewagen kommt uns entgegen, mit Nummernschild aus Dippoldiswalde. "Das sind deutsche Zuhälter, die bringen tschechische Nutten in die Spielbank Zinnberg da hinten", sagt mein Freund, der hier oben auf dem Erzgebirgskamm ein Ferienhaus hat und das Milieu zu kennen scheint. Oder zumindest so tut. Den Wagen sehen wir gleich wieder an einer tschechischen Tankstelle. Es sind Sachsen, die das billige Benzin tanken. Eine Desillusionierung ins Biedere.Die echten Prostituierten sehen wir wenig später. Pikanterweise stehen sie hinter dem gigantischen Kreisverkehr, über den sich die Fahrzeuge vom neuen Grenzübergang aus Richtung Teplice (Teplitz) einordnen. Die Frauen stehen von dort bis kurz vor Teplitz dicht an dicht rund 20 Kilometer lang. Die längste und trostloseste Meile, die man sich wahrscheinlich vorstellen kann. Vielleicht glauben sie, dass noch ein paar sächsische Freier kommen, bevor sie zuhause mit Mutti aufs Neue Jahr anstoßen. Es sieht nicht so aus. Wir schlagen uns ins Gelände, sinken in Schneewehen ein, um uns ein verlassenes Haus anzuschauen, auf das mein Freund, ein Dresdner Architekt, seit längerem ein Auge geworfen hat. Es ist von solider Verfallenheit, aus seinem Giebelfenster kann man weit ins Böhmische schauen, weil das Erzgebirge gleich hinter dem kleinen Garten steil abfällt. Wald, der den Blick stören könnte, gibt es hier nicht mehr. Die industriellen Rauchgase von Sokolov (Falkenau) haben ganze Arbeit geleistet. Die Gegend hier oben ist menschenleer, ab und zu überholen uns ein paar junge Leute auf ihren Skiern. Wir kämpfen uns über ein weißes Feld zu einer verschlossenen Kirche vor. Dorthin gingen die Zinnwalder Katholiken bis 1945 zum Beten. Eine steinerne Christusfigur schaut auf einen kleinen, verschneiten Friedhof. Uns begrüßt der Grabstein des 1923 verstorbenen Gastwirts Josef Kaiser. Nach hundert Metern Tiefschnee sind wir am Haus meines Freundes. Die grüne, heute weiße Grenze haben wir anstandslos überschritten. Hier oben interessiert sich keine Sau für uns.Als während des Kosovo-Krieges Flüchtlingsströme über den Kamm kamen, hat man die Grenze mit Betonpfeilern gesichert, um Autos zu stoppen. An einem der Pfeiler stehen wir in der Silvesternacht, trinken Sekt und schauen auf die Raketen in den deutschen und tschechischen Dörfern. Einer schießt unentwegt Leuchtspurmunition ab: grün, weiß, rot. Wohl noch Vorräte von früher.