Auf der dunklen Betonterrasse vor dem Pankower Extra-Markt steht ein älterer Herr und pinkelt durch das schmiedeeiserne Gitter. Kurze Zeit später sehe ich ihn, wie er mit einer blauen Weintraube in der Hand versucht, sich zurück durch den Eingang zu schmuggeln, unkassiert. Im Freien frisst er hastig und hüstelnd die Traube und verschwindet wie ein Schatten in den Großstadtabend. Wie ich noch über dieses abendliche Phantom nachsinne, begegnet mir ein neuer Nachbar westdeutscher Herkunft und streckt mir freundlich seine Hand entgegen.
Was für ein Paradigmenwechsel! Nachdem ich mir mühsam das Shake hand abgewöhnt hatte und im Glauben war, nach 13 Jahren endlich in der Demokratie angekommen zu sei, jetzt diese körperwarme Fraternisierung. Wie o
ung. Wie oft hatten ich und andere DDR-Bürger peinliche Situationen provoziert, wenn wir den Landsleuten jenseits von Mauer und Stacheldraht unsere Flosse entgegengehalten hatten, auf die ein angemessen distanzierender Blick fiel. Das Händeschütteln der Ostler war offensichtlich genauso ein fossiler Reflex wie das Heiraten vor dem Standesamt, beides entsetzlich rückständig und überflüssig. Lange habe ich über diesen kulturellen Unterschied nachgedacht und wie es zu ihm gekommen ist. Es blieb nur die Erklärung aus dem Politischen. Hatten die Bundis vielleicht einfach nur ein Modellprojekt der dreißiger Jahre weitergeführt, das schon damals das Händegeben als unmodern empfand? Leider zu einfach. Denn nachdem man damals gegenseitig den rechten Arm zur Begrüßung hochgestreckt hatte, gab man sich trotzdem anschließend noch die Hand. Gustav Knuth erzählte einmal die schöne Geschichte, wie Lilian Harvey zu einem Empfang bei Hitler eingeladen war. Und wie sie nun überlegte, ob sie ihm nicht doch wider alle sonstige Gewohnheit ein »Heil Hitler« entbieten sollte. Gedacht, getan. Als sie ihm gegenüberstand, ging ihre Hand nach oben. Der Kunstfreund Adolf aber hatte sich entschlossen, charmant zu sein und der Schauspielerin, von deren nationalsozialistischer Grußabstinenz er wusste, seine weiche Hand zu reichen. Ihr Arm oben, seiner unten. Dann beide in die Gegenrichtung, jeder am andern vorbei, und das mehrmals. Slapstick in der Reichskanzlei.Andererseits. Dass der ostdeutsche Händedruck historisch nicht unwichtig war, belegt die Tatsache, wie er sogar das SED-Parteiabzeichen schmückte. Dieses, von abgeschmackten Menschen »Klub der abgehackten Hände« genannte Symbol der Vereinigung von SPD und KPD hätte ja der lebensgeschichtliche Hintergrund sein können für das ewige Händeschütteln der Ossis. Bannung durch Benennung, oder so ähnlich. Wer erinnert sich nicht der schönen Losung im sozialistischen Wettbewerb »Meine Hand für mein Produkt«. Und wer dachte angesichts der miesen Produktionsleistungen dabei nicht an ein Volk von Amputierten. Da hätte es eigentlich leicht sein können, nach der Wende befreit ein anderes Grußverhalten zu trainieren. Aber vielleicht guckten die Leute auf ihre Pfoten und dachten, es war doch nicht alles ...Tja, die Hand. In manche Stasi-Akte schrieb der Führungsoffizier über sein neues Berichtemündel: Verpflichtung per Handschlag. Da hatten sie dann den Spitzel in der Hand, und der konnte später nicht sagen, dass er seine Hände in Unschuld wasche. Das alles weiß mein Nachbar natürlich nicht, als er mich auf ostdeutsch begrüßt und ich höflicherweise in alte Untugenden verfalle. West-östliche Lernprozesse. Was lachten die Altbundesbürger, als sie Anfang der Neunziger zur Mittagszeit immer mal ein gemütliches »Mahlzeit« aus dem Munde der Neubürger vernahmen. Wir haben uns schon ganz schön voneinander wegentwickelt, seitdem vor über 50 Jahren in Ost und West, in Nord und Süd noch von der Hitlerjugend durch Händetrommeln und anschließendes Ah- und Oh-Geschrei der Abschuss einer Silvesterrakete simuliert wurde. Es ist einige Zeit vergangen, in der wir uns voneinander fortentwickelten. Und nicht immer freiwillig. So manches Mal fragte ein forscher Mensch am Telefon: »Du bist doch Genosse, oder?« - »Da muss ich Sie enttäuschen«, mein kühles Echo. Da war kein Händedruck mehr möglich und nötig. Das Geduze ist vorbei, das Händegeben ist geblieben. Vielleicht aber ist die gesamtdeutsche Begrüßung à la Ost der launige Respekt vor den letzten Hinterbliebenschaften der DDR, also Sandmännchen, Grüner Pfeil und Hände geben. Ich werde mir Good Bye, Lenin mal unter diesem Aspekt zu Gemüte führen. Es ist zu hoffen, dass der einfühlsame Denkmalpfleger aus der Lüneburger Heide, der dieses Opus filmte, auch so einer Sache die gebührende Aufmerksamkeit geschenkt hat. Man stelle sich vor, die aus dem Koma erwachte Mutter wird von einem wandlungsfähigen Menschen am Krankenbett ohne Händedruck begrüßt. Ertappt! Denkmalpflege ist halt ein schwieriges Geschäft. Schwieriger als Weintrauben zu klauen, um sie von der Hand in den Mund zu schieben.