Mitten im Getümmel

Medientagebuch Innovatives im Infotainment: Über die feinen Unterschiede des Stehens oder Sitzens

Was sich für mich in den vergangenen 15 Jahren denn so verändert habe, fragte unlängst ein guter, am Werdungsprozess der Ostdeutschen stets interessierter Bekannter. "Man kommt leichter an Westzeitungen als früher", so meine prompte Antwort, die ihn etwas ratlos machte. Aber was hat eine derartige, vom rostigen Charme der Nostalgie befallene Mitteilung schon für einen Wert in Zeiten, die grundstürzende Veränderungen im Medienwesen bringen, beispielsweise bei der ARD! Seit 20. Juni 14.00 Uhr mittags haben deren Nachrichtensprecherinnen und Nachrichtensprecher einschließlich der beiden Tagesthemen-Moderatoren Anne Will und Ulrich Wickert die Positionen von Sportreportern eingenommen und verlesen ihre Botschaften aus aller Welt künftig im Stehen. Dem normalen Zuschauer wäre das womöglich gar nicht aufgefallen, was ihm auf allen Medienseiten der Tageszeitungen als Ankündigung entgegendröhnte, denn die TV-Neuigkeitsapostel haben gewissermaßen eine Zwitterposition eingenommen. Sie stehen zwar, lehnen aber gleichzeitig an bequemen Hockern. Also etwa eine Position wie in der Nachtbar.

"Wir fühlen uns im Stehen wohler", meinte Jan Hofer, Chefsprecher der Tagesschau, unlängst in einem Pressegespräch. Hofer hatte übrigens ähnliche Wahrnehmungsprobleme wie Otto Normalfernsehverbraucher, denn er dachte, beim Konkurrenzsender ZDF stünden die Moderatoren. Aber siehe da, sie sitzen. "Man kann auch frei stehen, muss dann aber sehr präzise stehen", so der Nachrichtenanchorman. Dürfen wir uns auch wohler fühlen, wenn sich die Tagesschau- und Tagesthemenmannschaften angeblich wohler fühlen? Die Nachrichten werden dadurch nicht besser, und der schon etwas ältere Herr Wickert muss an seine Gelenke denken. Er hat auch schon mitgeteilt, dass er lieber weiter gesessen hätte.

Weniger scheint es die Macher von Heute und Tagesthemen zu stören, wenn beispielsweise eine ZDF-Sprecherin einen schweren Sigmatismus (gilt vielleicht als liebenswerte Mundart) und der Wetterberichtverleser bei der ARD ein näselndes Lispeln rüberbringt. Beides scheint kein Hindernis zu sein, was einen als Mensch in diesen schweren Zeiten freut, als Konsument nervt.

Möglicherweise bekäme es auch einer Sendung wie Sabine Christiansen, wenn die Diskutanten stehen würden. Sie müssten dann nicht nur herumquatschen, sondern könnten auch ein wenig herumgehen, was die Konzentrationsfähigkeit des Zuschauers nur gering beeinflussen würde. Wir leben in virtuellen Vorwahlzeiten, was die Moderatorin am vergangenen Sonntag zu der Bemerkung veranlasste: "Wir sind mitten im Getümmel". Ein Satz, der ebenfalls schon ein wenig Bewegung insinuiert. Aber es folgte leider nur das gewohnte Hin- und Hergehampel. Hans-Werner Sinn vom Münchner Ifo-Institut stellte zum wiederholten Male fest, dass in Deutschland die Lohnnebenkosten gesenkt werden müssten und die Bedingungen für Unternehmer zu verbessern seien. Andreas Pinkwart von der FDP, gerade zum stellvertretenden Ministerpräsidenten in Nordrhein-Westfalen und zum Innovationsminister gekürt, antwortete auf die berechtigte Frage, was ein Innovationsminister so treibe, die Steinkohlesubventionen sollten gekürzt, wenn nicht abgeschafft werden. Dem entgegnete der SPD-Chef von der Saar, Heiko Maas, die Bürger seien bereit, die nötigen sozialen Anpassungen anzunehmen. Die SPD sei eine Volkspartei und auch nicht immer einer Meinung mit dem DGB. Hans-Christian Ströbele, von Journalisten gern "grünes Urgestein" genannt, der nächstens wieder in Berlin-Kreuzberg-Friedrichshain direkt gewählt werden will, teilte mit, dass in den vergangenen sieben Jahren die Ehe zwischen Rot und Grün auch vollzogen worden sei. Anschließend hielt sich die Runde noch ein bisschen bei der Steuerreform, dem Stopfen von so genannten Steuerschlupflöchern und den Lohnstückkosten auf, die Gesundheitsreform nicht zu vergessen. Ursula Engelen-Kefer, stellvertretende DGB-Vorsitzende, meinte, dass die Steuern in Deutschland doch sehr niedrig seien. Während alle Diskutanten, zu denen auch noch der frisch gewählte Ministerpräsident von Baden-Württemberg, Günter Oettinger gehörte, einfach alle gleichzeitig redeten, war von Frau Christiansen mehrmals der Satzanfang: "Würde gerne mal..." zu hören. Abschließend stellte Professor Sinn fest: "Die Staatsfinanzen sind nicht in Ordnung."

Dem war vom Zuschauer, der zwischendurch ein wenig gegen den Schlaf kämpfte, nichts entgegenzusetzen. Zum wiederholten Male war ihm aufgefallen, dass kein Politiker und kein Wissenschaftler mehr einen Satz anfängt, ohne ihn sogleich mit dem Einschub "das heißt" zu ergänzen. Es hat den Anschein, als ob er sich wie uns den jeweiligen Sinn seiner Sätze erklären muss. Tut er natürlich nicht. Das heißt, er versucht es wenigstens mit "das heißt". Zählen Sie ruhig einmal mit. Dass bei Christiansen kaum eine Frau und so gut wie nie Ostdeutsche sitzen, geschenkt. Muss ja in diesem Fall keine Schande sein.

Wer noch Interesse an Diskussion, Streit um Sachverhalte, der Logik einer Auseinandersetzung hat, sollte jeden Mittwochabend im WDR Hart aber fair mit Frank Plasberg anstellen. Der gerade mit dem Grimme-Preis ausgezeichnete Moderator betreibt 90 Minuten lang eine unterhaltsame wie lehrreiche Tiefenbohrung, wenn er den anwesenden Politikern auf den Zahn fühlt. Die Sendung, die schleunigst ins Erste gehört, sollte vielleicht der Zuschauer stehend sehen, anstatt bei Sabine Christiansen sitzend k.o. zu gehen. Als Referenz an einen stets freundlichen, bestens präparierten und durchsetzungsfähigen Fernsehmenschen. Getreu dem Schillervers: Der Menschheit Würde ist in eure Hand gegeben -/ Bewahret sie!/ Sie sinkt mit euch! Mit euch wird die Gesunkne sich erheben!


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