Mut zu gehen, Mut zu bleiben

Kunst Über die Ausstellung „Ausgebürgert“ im Dresdner Albertinum
Ausgabe 45/2015

Im Frühjahr 1990 erreichte mich ein Brief der Staatlichen Kunstsammlung Dresden, in dem dessen neugewählter Generaldirektor, Dr, Werner Schmidt, um Adressen von Künstlern bat, die vor Oktober 1989 in den Westen gegangen waren. Schmidt sammelte Informationen für ein Ausstellungsprojekt, das jetzt noch bis 12. Dezember im Albertinum und von Januar bis März nächsten Jahres in der Kleinen Deichtorhalle Hamburg besichtigt werden kann: Arbeiten von 150 Malern, Grafikern, Bildhauern und angewandten Künstlern, die mit den gesellschaftlichen Verhältnissen in der ehemaligen DDR nicht klarkamen. Sollte sie zuerst den sehnsüchtig-wehmütigen Titel "Die uns fehlen“ tragen, heißt sie jetzt schlicht und klar „Ausgebürgert“.

Der Katalog, der insgesamt 665 Künstler erwähnt, die das Land zwischen Elbe und Oder verließen, macht das Dilemma dieses Projekts deutlich. Allzu unterschiedlich sind die Motive derjenigen, die es im einstigen Arbeiter- und Bauern-Staat nicht mehr aushielten. So schrieb der Bildhauer Hans Scheib an Werner Schmidt: "Ausgebürgert habe ich mich also selbst mit guten Gründen. Das war kein Opfer und kein Heldenstück, eher ein Sprung aus der Nestwärme, von der ich hoffe, dass sie mich weder so noch anders je wieder einholt. Es macht mir Gänsehaut. als Teil eines historischen Phänomens etwa neben jemandem zu hängen, der bei einer privilegierten Kunstgeschäftsreise im Westen ebenso, aber zum rechten Zeitpunkt vom Saulus zum Paulus mutierte.“

Natürlich hängen in den Sälen des Albertinums, das sonst alle fünf Jahre die Weihen der Dresdner Kunstausstellung ausstrahlte, Paulusse neben Saulussen. Das wird jeder Betrachter ganz gut für sich entscheiden können. Deshalb scheint der Vorschlag von Lutz Dammbeck, der 1984 das Handtuch warf, interessant zu sein, der Werner Schmidt riet, eine Ausstellung von Künstlern folgen zu lassen, die die DDR nicht verließen. „Dann haben Sie die Chose komplett.“

Es wäre auch eine notwendige Ergänzung zu der Behauptung von Georg Baselitz, dass nach seinem und dem Weggang von Penck, Polke, Lüpertz und Richter ja „dort drüben keiner mehr ist“. Was machen wir dann beispielsweise mit einem einsam ragenden Künstler wie Carlfriedrich Claus, der 1985 in seiner Annaberger Wohnung von zwei Stasileuten die dringende Empfehlung bekam, eine Übersiedlung nach dem Westen zu beantragen, schnelle Erledigung sei garantiert. Als Claus beim I. Sekretär der SED-Bezirksleitung Karl-Marx-Stadt interveniert, sind die beiden nicht auffindbar. Es ist kaum zu erwarten, dass Claus aus künstlerischen Gründen in die Zone malerischer Qualität verbracht werden sollte. Unter ähnlichen Drohungen und mit ähnlichem Druck sind andere vertrieben worden, beispielsweise Helge Leiberg, "Neben dem Mut zu gehen, gab es auch den Mut zu bleiben! Ich achte beides. Wenn einer wiederkommt, wird dies glücklicherweise keine Rückkehr sein. Er bleibt bei sich. Das ist die zweite Chance“, schreibt der Kunstwissenschaftler Klaus Werner im Katalog.

lm gerade erschienenen Band „Kunst in der DDR“ (Verlag Kiepenheuer & Witsch) verweist Herausgeber Eckhart Gillen in seinem Essay „Bilderstreit im Sonnenstaat“ auf die Aspekte innerer und äußerer Emigration, ohne Zensuren für die jeweilige Entscheidung zu verteilen. Unter Bezug auf Max Scheler, der die Innerlichkeit als einzigen Luxus der Dienenden und Gehorchenden beschrieb, bezeichnet Gillen diese Haltung als letzte Rückzugsposition „angesichts einer alle Teilbereiche der Gesellschaft funktionalisierenden Sonnenstaates“.

Diese Ausstellung ist das, was die Dresdner Kunstausstellungen immerso gern sein wollten. Sie ist politisch. Unter ästhetischen Kategorien fällt die Bewertung schwer, denn sie bietet ein Sammelsurium unterschiedlichster Qualität. Von herausragendem Rang sind vor allem frühe Arbeiten, etwa Horst Strempels Bild „Mädchen in Rot“, Ulrich Knispels stille „Sommerliche Landschaft“, die „Figurenreihungen“ von Horst de Marees, Hermann Bachmanns großartiges „Strandgun-Gemälde“, die Zeichnungen des Bildhauers Bernhard Heiliger und vor allem die Aquatinten von Hans Körnig, die in geradezu dämonischer Klarsicht ein Bild des Dresdens der fünfziger Jahre gibt. Wenn man bedenkt, wie erbärmlich Kunstwissenschaftler mit Körnig umgegangen sind, der im Spätsommer 1961 von einer Westreise nicht mehr nach Hause fuhr, wie die zaghaften Versuche, Ausstellungen seiner Werke zu organisieren, immer wieder gegen eine Wand aus Feigheit und Drohungen rannten, dann hat man am Schicksal dieses Künstlers das ganze Elend falsch verstandener Rezeption vor Augen. Zu Bachmann schrieb ein Kollektiv der SED-Betriebsparteischule der Deutschen Post Halle am 14. Januar 1953 in der Zeitung „Freiheit“: "...das Bild >Mohn vor der Reife< des Malers Hermann Bachmann ist ein völlig formales und dekadentes Machwerk eines Menschen, dessen Arbeiten in unseren Kunstausstellungen nichts mehr zu suchen haben. Hier können wir vor allem die Jury nicht verstehen, die solch einen Dreck durch gehen ließ: Vox populi. Bachmann ging kurz darauf in den Westen, um dort fast völlig vergessen zu werden.

Leider hatten sich einige Künstler für die Einladung nach Dresden mit jüngsten Arbeiten revanchiert. Es schienen nicht immer die besten zu sein. Mehr lässt sich vermutlich aus der schmerzhaften Reibung der Weggegangenen mit heimatlichen Zuständen erkennen. Und nicht jeder hatte die prophetische Gabe von A. R. Penck, der auf einer riesigen leeren Leinwand zum Weitermalen nur die Symbole Schwarz-Rot-Gold und dasselbe noch einmal mit Hammer und Zirkel notierte. Die Zeitgeschichte hat dieses Bild im Stil des non finito weitergemalt. Ob es von bleibender Qualität ist, sollte die Nachwelt entscheiden.

Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag

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