Post festum

Berliner Abende Am Abend fahre ich mit der S-Bahn nach Hause. Es geht gegen 17 Uhr von der Station Unter den Linden Richtung Norden. Der in grüne Kacheln aus der ...

Am Abend fahre ich mit der S-Bahn nach Hause. Es geht gegen 17 Uhr von der Station Unter den Linden Richtung Norden. Der in grüne Kacheln aus der Nazizeit gekleidete Bahnhof ist von unerschütterlicher Unpersönlichkeit. Kein Zeitungskiosk, kein Zigarettenstand, keine Werbung bringen etwas Leben in die Kühle. Stattdessen erzählen dem Fahrgast große Plakate von der Wiedervereinigung. Auf einem sieht man junge Leute, die entfernt an Bodyguards erinnern, schwarz-rot-goldene Fahnen schwenken und durchs Brandenburger Tor laufen. Es ist der 3. Oktober 1990. Oben das geschichtsverbleite Tor, darunter der Bahnhof, noch tiefer die Erinnerungen an die Zeit vor 15 Jahren.

Wenn ich mit der Feierabend-S-Bahn nördlich Richtung Frohnau (West) fahre, lesen die Leute den Tagesspiegel, fahre ich Richtung Bernau (Ost) haben sie die Berliner Zeitung oder den Berliner Kurier vorm Gesicht. Die Morgenpost ist generell wenig vertreten, vielleicht, weil es schon Abend ist. Berlin liest noch immer getrennt. Lediglich einige Zugereiste vom Rhein nehmen ahnungslos die Berliner in die Hand, der es nichts nutzt, dass auch in ihrer Redaktion über die Hälfte der Redakteure aus dem Westen sind, in der Führungsetage über 90 Prozent. Sie bleibt in der Klischeewahrnehmung ein "Zonenprodukt". Für den Tagesspiegel stellen sich derlei Probleme nicht, bis auf einige Journalisten aus Ecken jenseits der einstigen Mauer ist er die alte Betriebsmaschine. Sorgfältig wird die Stadt jeden Tag geteilt in City (Ost) und City (West), in einen östlichen und einen westlichen Teil. In einer täglichen Rubrik erzählen Berliner (West) und Berliner (Ost), was sie so alles sehen und erleben hinter ihrer jeweiligen Brille. Vielleicht lustig gemeint, aber eigentlich nur traurig. Seit die Mauer weg ist, wird in der Deutschen Hauptstadt gemauert.

Am Mittag auf dem Pariser Platz in der City (Ost) kann man einen Moment vergessen, dass man in der Metropole der Schizophrenie lebt. Touristen bevölkern das Gelände, ihre Ahnungslosigkeit hat Tröstendes. Sie wissen nichts von den Grabenkämpfen in jener Stadt, die von Politikern gern das Laboratorium der deutschen Einheit genannt wird. In welcher Versuchsreihe befinden wir uns? Gewohnheiten sind haltbar, und nach einem deutschen Sprichwort (west wie ost) sind sie König über den Verstand. Aber es geht nicht um den Verstand, sondern um Gefühle. Dabei könnte das Laboratorium ein wunderbarer Ort sein für das Studium mannigfaltigster Besonderheiten. Die könnten besser ertragen werden, wenn akzeptiert würde, dass gewohnter Stumpfsinn leichter toleriert wird als fremder. Es würde den Vier-Fünftel-Deutschen helfen zu verstehen, dass die Ein-Fünftel-Deutschen beispielsweise ihre Bewunderung verbalhistorisch in einem Wort ausdrücken, das wie Wurst ohne W klingt. Die Ein-Fünftel-Deutschen könnten besser hinnehmen, dass die Vier-Fünftel-Mehrheit des Landes als Ausdruck des Erstaunens eine Riesenschlange mit drei Buchstaben oder die Abkürzung von United Parcel Service bevorzugt. Welch Reichtum deutscher Sprachlandschaft und welch Hinweis auf die Tatsache, dass Großes im Kleinen verborgen ist!

Am Morgen fahre ich von Pankow (Ost) beziehungsweise Schönholz (West) zu meinem südlich gelegenen Arbeitsplatz in der Mitte Berlins. Die Pankower S-Bahn-Züge kommen schon voll bis unters Dach an. Die S-Bahn-Verwaltung könnte darüber nachdenken, ob sie statt des zur Entlassung anstehenden Aufsichtspersonals nicht arbeitlose Teilzeitkräfte einstellen sollte, die wie in Japan die Fahrgäste in die Waggons quetschen. Die nötige Wut wäre sicher vorhanden, weil Menschen ohne Arbeit Menschen, die noch welche haben, kräftig in den Rücken treten dürften. Andererseits ist es schön, dass die S-Bahn so viel Geld verdient. Vielleicht hilft es der Bahn, ihre großkotzigen Projekte in Berlin fertig zu kriegen. 2006 sollen zur Fußball-WM die ersten Züge durch den Nord-Süd-Tunnel rollen. Fernzüge dürften es kaum sein, denn die wurden schon vor Jahren auf den Nordstrecken nach Rostock und Kopenhagen von den Gleisen genommen. Nach Süden über die alte Anhalter Bahn wird sich der Verkehr ebenfalls in Grenzen halten, denn die Schnellstrecke nach dem Westen (also Hannover, Rheinland, Frankfurt/Main, Stuttgart und München) geht über die Stadtbahn und verlässt "die Zone" nach einer knappen Stunde. Um den schönen, sündhaft teuren Hauptbahnhof ein bisschen rentabler zu machen, plant die Bahn eine Art S-Bahn auf den Tunnelgleisen zwischen Gesundbrunnen (Nord) und Papestraße (Süd), weitere Halte sind Potsdamer Platz und Hauptbahnhof. Mal sehen, wer das benutzt. Vielleicht Touristen, die Berlin sowieso nicht kennen und nicht so genau wissen, dass der 3.10.1990 die Vollendung der inneren Einheit der Westdeutschen brachte und die Konstituierung der soeben abgeschafften DDR post festum.


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