Reise durch eine innere Landschaft

POSTKOMMUNISTISCHE BILANZ Zwei Ausstellungen in Berlin erzählen unterschiedlich von Vergangenem

Ich schaue unter dem Tisch hervor. Das 20. Jahrhundert ist ein sonderbares Jahrhundert. Je besser ein Jahrhundert für den Historiker ist, desto trauriger ist es für den Zeitgenossen«, hat der russische Dichter Nikolai Glaskow geschrieben. Er gilt als der Erfinder des Begriffes »Samizdat«. Auf deutsch heißt das Selbstverlag. Glaskows bittere Definition beschreibt das Dilemma der inoffiziellen Kunst in den Ländern des Ostblocks. Abgeschnitten von den Diskursen des Westens über zeitgenössische Kunst suchten sie das »Eigene«, abseits der offiziellen Phrasen versuchten sie, das »Eigentliche« auszudrücken.

Zwei Ausstellungen in Berlin, obwohl unterschiedlich konzipiert, vermitteln einen ebenso eigenwilligen wie eigensinnigen Zusammenhang von Literatur, Malerei und Fotografie zu Zeiten des Kommunismus und in den zehn Jahren danach. Samizdat in den Räumen der Akademie der Künste breitet eine umfangreiche Dokumentenschau über viele unterdrückte Regungen aus, die in der Sowjetunion und den anderen Ländern des Warschauer Paktes eine inoffizielle Gegenkultur von höchst unterschiedlichem Einfluss bildete. After the Wall im Hamburger Bahnhof und im Max-Liebermann-Haus am Brandenburger Tor zeigen osteuropäische Kunst aus den vergangenen zehn Jahren, die eine ebenso kritische wie subjektive Bilanz der »Abgründe der Freiheit« (Heiner Müller) zieht. In beiden Ausstellungen dominiert die Radikalität des Individuums, das aber weniger marktschreierisch als romantisch orientiert ist. Es geht um »moderne moralische Themen«, wie es auf der Pressekonferenz zu After the Wall im Hamburger Bahnhof formuliert wurde, um Sinnsuche. Die Ausstellung solle jedoch keine documenta des Ostens sein, meinten ihre Macher Bojana Peijic, Iris Müller-Westermann und David Elliot.

Die Gefahr scheint nicht zu bestehen. Noch ist die im Hamburger Bahnhof und am Brandenburger Tor - beides Orte an der ehemaligen Ost-West-Grenze - gezeigte Schau auf das in den eigenen Ländern Erlebte fixiert. Also eher ein moderner Existenzialismus als die nach Kommunikation strebende Versammlung experimentierender Künstler in Kassel. In diesem radikalen Beschreiben der eigenen Existenzverhältnisse stehen die zumeist jungen Vertreter der bildenden Kunst in Russland, Polen, Ungarn, Rumänien oder dem ehemaligen Jugoslawien viel näher an den Werken, die in der Samizdat-Ausstellung gezeigt werden. George Vagners Aquarell Bohren bei Nacht oder die Blätter des Esten Ülo Sooster Häftling in Wattejacke und Sonniger Tag im Lager ergreifen den Betrachter nicht durch irgendeine formale Brillanz, sondern ganz altmodisch durch den Inhalt des Gezeigten. Der sonnige Tag im Lager besteht aus einem barfüßigen Häftling in der Wüste unter einem blauen Himmel und einem weißen Tuch. Die Situation erinnert an das Glück des Häftlings in Alexander Solshenyzins Tag im Leben des Iwan Denissowitsch, der den Kaschatopf als Letzter auskratzen durfte und dadurch etwas weniger Hunger hatte als an anderen Tagen. Solche künstlerischen Arbeiten aus dem Straflager sind Akte der Emanzipation im doppelten Sinne. Sie bedeuten einen Moment der Freiheit für den Häftling und eine Reise in die Freiheit der Kunst. Sie sind Sehnsuchtsmotive, wie sie Kunst seit Jahrtausenden charakterisiert.

Die sorgfältig und deshalb leider auch ermüdend zusammengetragene Dokumentation in der Akademie der Künste beschreibt ausführlich das Leben der Opposition im sozialistischen Lager, ihre Untergrundzeitungen und verbotenen Organisationen, ihre Szenen und deren Selbstdarstellung. Dabei ist die Reihung zuweilen fragebedürftig. Pencks Blaues Selbstbildnis von 1959 ist gewiss ein interessantes Dokument über den Beginn eines Malers, mehr aber auch nicht. Die Gefahr der Hagiographie ist groß. Ganz anders die Aussage des Bildes Alles zum Wohle des Volkes von dem Dresdner Maler Peter Graf. Im Bierglas unter der politischen Parole schwimmt eine Fliege, ein Symbol des Stillstands, des provinziellen Behagens. Nicht jeder Ausstellungsbesucher kann sich den ebenso teuren wie detailreichen Katalog zu Samizdat kaufen, weshalb kurzgefasste Erläuterungen zum Gezeigten nützlich sein könnten. Für Uneingeweihte bleiben die Fotoporträts des Leipzigers Thomas Florschuetz stumm. Nicht jeder kennt Leben und Wirken solcher Antipoden wie Bert Papenfuß, Sascha Anderson, Michael Diller, Uwe Kolbe und Christoph Tannert.

Es ist das Schicksal von Oppositionellen, nach der Niederlage ihrer Gegner in ein großes »Es ist erreicht« zusammengesperrt zu werden. Dem entgeht notgedrungen auch die Samizdat-Schau nicht, in der Systemgegner wie Solshenyzin oder die Vertreter der Solidarnosc mit Systemveränderern wie dem kürzlich verstorbenen Skripturalgrafiker Carlfriedrich Claus zusammengesperrt werden.

After the Wall, zuvor schon mit Erfolg in Stockholm und in Budapest gezeigt, bietet Werke von 150 Künstlern aus 22 Ländern, die eine emotionalisierte Suche nach dem Ich demonstrieren. Dass diese spannende Ausstellung nun als ein Blick nach Osteuropa ausgegeben wird, der schon eine Berliner Tradition der zwanziger Jahre gewesen sei, ist eine eher historisierende Reminiszenz. Als Werbung für das aufwändige Unternehmen mag sie durchgehen, als Zustandsbeschreibung nicht. Die sowjetische Kunst, die in den zwanziger Jahren in Deutschland gezeigt wurde, war eine des Aufbruchs und der neuen Formen. Sie verbrüderte sich schnell mit modernen Ausdrucksweisen im Westen, die sich ebenfalls aus Hergebrachtem emanzipierte. Was heute in Berlin gezeigt wird, schaut auch nach Westen, ist aber in erster Linie ein Produkt der Aufarbeitung. Und sei es im Sinne der zu Ausstellungsbeginn geäußerten Meinung: »Sie erreichen die Freiheit, und hinten kommt die Mafia raus.«

Für solche Haltung stehen hauptsächlich die Fotoarbeiten. Sie sind soziale Plastiken der Umbruchsituation wie die Fotoinszenierungen des Ukrainers Arsen Sawadow, der nackte, verdreckte Bergarbeiter in ihren Waschkauen zeigt und die Aufnahme mit Hochzeitskleidern und Nazistandarten verfremdet. Es zeigt sich in der Installation P.A.R.A.S.I.T.E. Museum des Slowenen Tadej Pogacar, einem Foto von drei schlafenden Obdachlosen auf einer Parkbank, zwei Männern und einer Frau. Oder in den Schwarz-Weiß-Fotografien der Polin Zofia Kulik From Sibiria to Cyberia, einem Bilderteppich aus Geschichtlichkeit, einer handgemachten Collage aus tausenden kleinen Bildern, aufgenommen vom Fernsehbildschirm, den sie seit den siebziger Jahren fotografierte. Ein visuelles Tagebuch aus den sozialistischen Jahren Polens wie vom Aufblühen westlicher Konsumwelt in der Zeit nach der Wende. Cyberia scheint dabei ein genauso weiter Begriff zu sein wie Sibirien, es intendiert den unendlichen Raum des Cyber-Space.

Teilweise besitzen die gezeigten Bilder die Ungeschütztheit des naiven Menschen. Der Russe Juri Leiderman zeigt Orte, »an denen ich glücklich war«. Über den jeweiligen Fotos sind rote Punkte angebracht als ein Diagramm des persönlichen Glücks von Leiderman, der in den achtziger Jahren zu den Moskauer Konzeptualisten zählte. Die Letten Gints Gabrans und Monika Ines Permale konfrontieren den Besucher mit Farbaufnahmen der Rigaer Partnervermittlung. Frauen und Männer aus Lettland geben ihr Alter, ihre Interessen und ihre Adressen an, in der Hoffnung auf Liebe im Westen. Eine sehr seltsame Kunstagentur zur Vermittlung eventuellen neuen Lebensglücks.

Solch optimistischer Erwartungshaltung stehen die blau getönten, düsteren Schwarz-Weiß-Fotos des Ukrainers Boris Michailow entgegen, Ansichten der Stadt Charkow und der von ihr ausgestoßenen Säufer, Krüppel und Obdachlosen, eine chronique humaine, aufgenommen mit einer alten »Horizont«-Kamera aus Sowjetzeiten. Obdachlose sind auch Bildinhalt des InsideOut-Projektes von Erhardt Miklos und Dominic Hislop. Etwa 40 Wohnungslosen, die Miklos und Hislop auf Budapester U-Bahnstationen fanden, wurde die Möglichkeit gegeben, mit einfachen Wegwerf-Kameras zu dokumentieren, was ihnen wichtig erschien. Kunst als Sozialarbeit, ein eher unpopulärer Ansatz in heutigen Zeiten. After the Wall bietet ein differenziertes Bild jener unterschiedlichen Stimmungen, die es in Osteuropa gibt, einen »Laufsteg tragischer Porträts«, wie ein Gemälde des Albaniers Edi Agostini Hila heißt. Die Ausstellung bietet damit einen schmerzhaften Kontrast zur Spaß- und Spielkunst des Westens, dem soziales Engagement in Malerei und Plastik momentan etwas fernsteht. So dass die Frage bleibt, ob das 21. Jahrhundert mehr dem Historiker oder dem Zeitgenossen gewidmet sein wird. Die Fotos des Installateurs Konstantin Skotnikow, der die Innereien seines Körpers mit Hilfe eines Endoskops als Reise durch eine innere Landschaft dokumentierte, können darauf ebensowenig eine Antwort geben wie die Videoinstallation der Bosnierin Danica Daikic, die eine Mauer aus sprechenden Mündern von 46 Personen baute, die in ihrer jeweiligen Muttersprache drei bis vier Minuten aus ihrem Leben erzählen. Ein Grundrauschen, vor dem wir verstummen.

Samizdat, Akademie der Künste, Berlin Hanseatenweg, noch bis 29.10.00

After The Wall, Nationalgalerie im Hamburger Bahnhof und Liebermann-Haus am Brandenburger Tor, bis 4.2.01

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