Von Zeit zu Zeit scheint es ratsam, einige Fragen nach dem Sinn gewisser Verläufe im Leben zu stellen. Wieso? Einfach nur so. Eines Tages kriegt wohl jeder Mensch jenen Überblick, dass er nicht mehr an Zufälle denkt, wenn er die Merkwürdigkeiten seines Alltags Revue passieren lässt. Warum zum Beispiel fährt jedesmal eine Tram, beziehungsweise Neueländerdeutsch Straßenbahn, der Linie 52 krachend durch die Pankower Grabbeallee, bevor ich gerade noch die Haltestelle erreichen kann? Und warum passiert das immer, wenn ich gerade an der backsteinernen Villa anlange, von der aus kein Spurt zur Bahn mehr hilft? Die 52 fährt alle Viertelstunde, ich bin schon zu den unterschiedlichsten Zeiten von zuhause losgegangen, immer dasselbe Ergebnis. Die Familie m
e meidet mich, um die Elektrische nicht zu verpassen. Warum kommt der Bruder der 52, jener unselige 150er Bus, ewig nicht und dann dreimal hintereinander? Warum lacht der Fahrer, wenn er seinen übervollen gelben Kasten an uns Wartenden vorbeifährt? Will er uns aufheitern? Oder ist er ein Sadist?Warum erhalte ich bei der Heimfahrt von der Arbeit auf dem U-Bahnhof Hallesches Tor immer die elektronische Mitteilung, dass der nächste Zug in einer Minute kommt, was er auch tut, und warum wird am U-Bahnhof Osloer Straße die sofortige Ankunft einer Bahn der Linie U 9 angekündigt, die dann trotzdem nicht einfährt? Warum hätte diese Bahn, wenn sie denn pünktlich gewesen wäre, nicht die wenigen Fahrgäste auf dem herrlich leeren Bahnsteig mitnehmen können, und warum garniert der die Verspätung mit einer Horde heraufstürmender Fahrgäste, die aus den tiefer gelegenen Schächten der U 8 quellen wie die flüchtenden Bauarbeiter in Bernhard Kellermanns berühmtem Roman Der Tunnel? Warum behauptet der Berliner Senat gemeinsam mit der Deutschen Bahn seit Jahren, dass der Nord-Süd-Fernbahntunnel 2006 in Betrieb genommen wird? Obwohl doch jeder halbwegs bei Sinnen befindliche Mensch, wenn er am künftigen Lehrter Bahnhof vorbeifährt, sieht, dass dieses dem Bukarester Ceausescu-Palast immer ähnlicher werdende Bauwerk die große Gebärde kapitaler Geldverschwendung wie kapitaler Nutzlosigkeit verströmt?Autofahrer mögen alle bisherigen Fragen mit einem verbleiten Lächeln registriert haben. Wollen wir also keine Warum-Fragen nach Tempo-30-Zonen, Busspuren, Staus und Ähnlichem stellen, sondern nach Kaufhallen beziehungsweise Supermärkten, wohin auch jener Mensch seine rollenden Schritte lenkt, dem unter seinem Hintern ein Autositz gewachsen ist. Warum, dürfte auch er sich fragen, muss ich ewig in einer Schlange stehen, um mitzuerleben, dass genau in jenem Moment eine weitere Kasse öffnet, wenn es sich nicht mehr lohnt, sein eingekauftes Zeug umzuladen, um Zeit zu sparen? Warum reicht diese Demütigung nicht, sondern die neue Schlange wird im Eiltempo bedient, während in unserer eine Kundin jenen Roller zurückzugeben versucht, den ihr Sohn voreilig und ohne ihr Wissen kaufte? Warum dürfen wir Augenzeuge eines Vorgangs werden, dessen Papierkram ungefähr ähnliche Dimensionen hat wie die Beschaffung eines Visums in die Mongolei? Warum fange ich nicht an zu schreien oder werfe mich auf den Boden, um zu verhindern, dieser besorgten Mutter zur rush our eins in die Fresse zu hauen? Warum reagieren wir gereizt, wenn wir zum x-sten Mal im TV-Wetterbericht hören, dass südlich der Donau die Sonne kräftig scheint und am Oberrhein die 20-Grad-Grenze erreicht wird, während in der deutschen Hauptstadt das Thermometer bei drei Grad plus immerhin herumkrebst? Warum wird seit einer knappen Woche für jeden neuen Tag die Ankunft eines Schönwettergebietes versprochen, das im Süden längst angekommen ist? Und warum muss diese milde Brise, kaum dass sie endlich bei uns aufgetaucht ist, 24 Stunden später schon wieder verschwinden, während uns die Wetterfee mitteilt, dass das Hochdruckgebiet, das "ganz" Deutschland die Frühlingstemperaturen schenkte, nun erst mal vorbei sei? Apropos Relativsätze. Warum muss seit der Rechtschreibreform jede Zeitung, die etwas auf sich hält, ein Relativ-Satz-Das mit Doppel-S schreiben und ein Aussagesatz-Das mit Rund-S? Warum stört das keinen Menschen? Ist die Freude über das verschwundene "ß" so groß, dass jeder Idiotenfehler verziehen wird? Warum müssen neuerdings die meisten Fernsehsprecherinnen und -sprecher einen veritablen Sigmatismus verströmen? Ist das Gelispel in? Und wussten wir das nur noch nicht? Warum hat uns niemand was gesagt? Was für eine endlose, verlässliche Melodie von Fragen, die unser armes Leben bereichern. Danke Schicksal für diese Monotonie, die so viel Ablenkung in die Normalität unseres Seins bringt. Alles soll deshalb so bleiben, die abstrusen Verspätungen, die Einkaufsschlangen und die Sprachfehler. Warum? Darum!