Ein 14jähriger Junge verließ dieser Tage die Berliner Wilma-Rudolph-Gesamtschule, um woanders weiterzulernen. Er war von einem Klassenkameraden als "Drecksjude" beschimpft worden, eine Mitschülerin meinte, man müsse ihn "totschlagen". Auf seine Schultasche wurde ein Hakenkreuz gemalt, er wurde fast vor ein Auto gestoßen. Die Schulbehörde reagierte auf Beschwerden der Eltern des bedrohten Jungen mehr als zögerlich. Ort der Handlung ein vornehmer Stadtteil: Zehlendorf. Zu lesen war das Ganze dieser Tage als kleine Meldung im Lokalteil einer hauptstädtischen Zeitung. Sonstige Schlagzeilen über diesen unglaublichen Fall keine. Hätte es eine derartige Zurückhaltung auch gegeben, wenn diese beschämenden Dinge beispielsweise in Dresden p
n passiert wären? Eine akademische Frage.Meinungsfastfood bedient vorhandene Klischees und ist auf raschen Verzehr bestimmt. Schnelle Verfallsdaten verlangen zügige Schlagzeilen. Die Konkurrenz ist groß, und die gesellschaftliche Hysterie ernährt sich selten aus dem Lokalteil. Schweinejournalismus in Zeiten des Rinderwahns.Ist man ein Aufrechner, wenn man das Zehlendorfer Ereignis dem Sebnitzer Medien-GAU gegenüberstellt? Darf man auch diese Mitteilung deutscher Zustände, die in gebotener Zurückhaltung gemeldet wurde, als gesellschaftlich alarmierend bezeichnen? Die öffentlichen Reaktionen auf den vermeintlichen Mord des Kindes Joseph Kantelmann-Abdulla haben die Verhältnisse zehn Jahre nach der Wende schlagartig beleuchtet. Eine Momentaufnahme mit Langzeitwirkung. Sie erhellt, was sich die beiden deutschen Teilgesellschaften zuzutrauen scheinen. Östlich der Elbe die zu jeder Gemeinheit fähigen Heloten, westlich die geifernden Journalisten, assistiert von Zeitgenossen, die die sächsische Kreisstadt am liebsten ausradieren würden. Stoff für eine dramatische Seifenoper: Die Ikone Der kleine Joseph gegen die Sebnitzer. Klischees, hinter denen nicht nur die Familie Kantelberg-Abdulla, sondern auch die übrigen Einwohner, sogenannte normale Leute ebenso wie engagierte Bürger und schließlich auch die Neonazis verschwinden. Die übliche deutsche Melange also. Weshalb die überhitzten Reaktionen auf einen ungeklärten Todesfall nicht zuletzt ein Trauerspiel mangelnder deutscher Vergangenheitsbewältigung sind. Während man sich zu DDR-Zeiten daran gewöhnt hatte, die Erben des Faschismus bei den Bonner Ultras zu wissen, waren sie nach der deutschen Vereinigung nur noch im Osten zu finden. Schuld sind immer die anderen, das ist die bittere Quintessenz der vergangenen 14 Tage.Nachdem sich der Orkan so rasch gelegt hat wie beim richtigen Wetter, ist es an der Zeit, die Sturmschäden der medialen Windmacher zu registrieren. Sie sind erheblich. Dennoch gab es auch hoffnungsvolle Zeichen. Der Spiegel, nicht gerade übermäßiger Sympathien und Kenntnisse des deutschen Ostens verdächtig, hat die Sebnitzer Geschichte vom braunen Mob, der unter den Augen einer schweigenden Öffentlichkeit ein Kind zu Tode quälte, so von Anfang an nicht geglaubt und die Finger von der Story gelassen. Professionelles Verhalten. Das kriminologische Institut aus Hannover war weniger skeptisch. Und die BILD-Zeitung, die zwar zwei Monate lang zu feige war, den unehelichen Sohn Franz Beckenbauers zu vermelden, hatte keine Skrupel, die Mordsgeschichte ohne Fragezeichen zu veröffentlichen. Den Scherbenhaufen dürfen jetzt alle zusammenkehren.Gerhard Schröder, der Kanzler aller Medien, sollte nicht vergessen, dass er der gewählte Repräsentant für alle Deutschen ist. Vielleicht kann er deshalb die nächsten Sommer geplante Reise nach Sebnitz in die Vorweihnachtszeit verlegen, um eine Situation zu besichtigen, die fast nur Verlierer kennt: eine Mutter, die ihren Sohn verloren hat und nach kurzer Sympathie in den Medien nun die Fallhöhe solcher Präsentation kennenlernt, außerdem die Bewohner einer Stadt, die erleben durften, wie sie pauschal an den Pranger gestellt wurden und wie ihr Internet-Gästebuch zur deutsch-deutschen Jauchegrube mutierte. Faschismus heißt, das letzte Wort haben. Weshalb die Gewinner des Ganzen nicht die Rechtsradikalen sein dürfen, die sich aus den zusammengebrochenen Verdächtigungen mit einem Biedermannsgesicht zurückmelden. Zivilcourage bedeutet nicht nur, einem Kind in Todesangst beizustehen, ob in Sebnitz oder in Zehlendorf, sie bedeutet auch, sich gegen Vorverurteilungen energisch zu wehren, damit der deutsch-deutsche Stellungskrieg keine weiteren Opfer findet. Stimmen der Vernunft sind gefragt. Auf beiden Seiten. Siehe auch