Der Jasmin blüht verzehrend, die Rhododendronbüsche zeigen letzte Spuren von Lila und Weiß. Die Nachtigall singt nicht mehr, weil sie jetzt im Juni brütet. Dafür zwitschert und schnarrt der Gartenrotschwanz. Eine vorabendliche Idylle, durch die ich entspannt mit dem Fahrrad rolle. Der Bürgersteig meiner Straße ist sehr breit, weil sie zum Schloss Niederschönhausen führt. Bis zu ihrem Ende bin ich an diesem Abend mit einem Fußgänger allein, den ich in aller Ruhe und Vorsicht überhole. "Dis is kein Radweg", überschreit er den Rotschwanz wie ein Eichelhäher auf zwei Beinen. "Und vor allem ist die Straße so schrecklich belebt", mache ich den Fehler, mit Ironie auf sein Geblöke zu reagieren. "Steig sofort ab, sonst gibt´s riesigen Ärger", droht er mir und geht auf ein vertrautes Du über. "Sie sollten an Ihren Blutdruck denken und sich nicht derart echauffieren", so mein noch immer freundschaftlicher Rat an den fremden Nachbarn. "Oder noch besser, fahren Sie doch einfach Rad." Das kommt einer Kriegserklärung gleich. Der unzivilisierte Ordnungshüter in eigenem Auftrag steht kurz vor dem Schlaganfall. Ich mache mir ernsthaft Sorgen um seine Gesundheit und verabschiede mich schnell mit dem Ratschlag: "Halt die Schnauze!"
Mit meiner Ordnungswidrigkeit muss ich eine kulturelle Ader dieses Mannes verletzt haben, der einen blankgeputzten Nissan vor der Türe stehen hat. Und mir fällt ein, dass es in den beiden Berliner Stadthälften zwei Verkehrsmittel gibt, die bestimmte Leute in Rage bringen: die Straßenbahn im Westen und das Fahrrad im Osten. Und das muss tiefenpsychologische Gründe haben. Seit 1993 gibt es wieder eine Stummellinie aus Richtung Prenzlauer Berg in der einstigen Frontstadt, nachdem dort unter entsprechendem Trara 1967 die letzte Elektrische aufs Abstellgleis geschoben worden war. Die Halbstadt war schienenfrei und empfindet deshalb heute die Wiedererrichtung einer Straßenbahnlinie in den Wedding als Angriff des kommunistischen Untergrunds auf die westliche Moderne, wie sie sie verstand. Dass seit den Siebzigern die Tram, wie sie heutzutage unverständlicherweise genannt wird, in vielen westeuropäischen Städten eine Renaissance als umweltfreundliches, kostengünstiges Verkehrsmittel erlebt, geschenkt. Jedesmal, wenn ein armer unaufmerksamer Mensch auf der Osloer Straße (West) in einen der gelben, schnellen Tatrawagen rennt und sich dabei verletzt oder sogar zu Tode kommt, reagieren speziell die Springerzeitungen im Furor der Anklage, und es schwingt ein stilles Lob auf die Helden des Widerstandskampfes gegen die Elektrische mit, die dieses Teufelswerk ignorierten. Es fehlt eigentlich nur noch der Hinweis, dass mit den Opfern wieder ein Stück altes Westberlin gestorben sei, eine Formel, die bisher nur Pfitze, Hildeken oder dem Steglitzer Bierpinsel vorbehalten scheint.
Einen ähnlich irrationalen Hass gibt es in der ehemaligen DDR-Hauptstadt auf die Radler. Dabei hätte dieser Typ (nach oben buckeln und nach unten treten) doch eigentlich ganz gut in die sozialistische Landschaft gepasst. Aber Radwege wurden dennoch bis heute kaum im Osten gebaut. Wahrscheinlich gelten die Tretmühlen als unmodern und fortschrittsfeindlich, trotz Täve Schur und der Friedensfahrt.
Tröstlich ist, dass sich die Wut auf die Tram und die Aggression gegen Radler in den beiden Hälften Berlins bis heute erhalten haben. Dadurch gibt es genügend Aufreger für jeden neuen Tag, den Gott in der ebenso pleitenen wie gespaltenen Stadt werden lässt. Das fehlende Geld bietet den Politikern Argumentationshilfe beim Zementieren der Vorurteile. Wir würden ja gern, aber es gibt leider keine Euros für Radwege (Ost) und Schienenwege (West). Eine Ausnahme bildet lediglich die Strecke zum Hauptbahnhof, vulgo Lehrter Bahnhof, jenem Milliardengrab, in dem ab 2006 die ICE halten sollen. Was sich an Fahrgästen aus den Tunneln ergießt, kann mit der Tram durch die Invalidenstraße fahren. Und dann? Keine Ahnung. Ein S-Bahnanschluss zum Ring wird frühestens 2008 fertig. Vielleicht kann die Bahn einen Fahrradverleih an ihrer künftigen Haupt- und Staatsstation einrichten. Derweil radle ich durch die Metropole zur Arbeit, was auch nicht gerade ungefährlich ist.
Neulich schoss aus der Boyenstraße, in der Nähe des einstigen Walter-Ulbricht-Stadions, ein PKW auf die Chausseestraße, ohne auf die Vorfahrt zu achten, und hatte mich samt Velo auf dem Kühler. "Entschuldigen Sie bitte, entschuldigen Sie bitte", barmte der Fahrer und zeigte mir seinen 24-Stunden-Blutdruckmesser, als ob das alles erklären könne. Ich reagierte in milder Gereiztheit und hätte diese Haltung gern jenem Blödsack empfohlen, der mich per Befehl vom Rad holen wollte. Und der wahrscheinlich auch dringend einen Blutdruckmesser braucht. Und zwar nicht nur für 24 Stunden.
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