Unter den Linden

Berliner Abende "Unter den Linden bin ich immer gerne gegangen. Am liebsten, Du weißt es, allein." Mit diesen geklauten Anfangssätzen aus Christa Wolfs 1973 ...

"Unter den Linden bin ich immer gerne gegangen. Am liebsten, Du weißt es, allein." Mit diesen geklauten Anfangssätzen aus Christa Wolfs 1973 erschienenem Erzählungsband Unter den Linden kann ich meine Stimmung ganz gut beschreiben, wie ich so in der Nachmittagssonne an der Humboldt-Universität vorbeispaziere. Vor dem Eingang und an den Zaunseiten, hinter denen die holzverpackten Denkmäler der beiden Humboldt-Brüder Alexander und Wilhelm stehen, haben fliegende Buchhändler ihre Quartiere aufgeschlagen. Geistbeladene Zeiten. Das Angebot entspricht den historischen Zeitläufen, in denen sich auch die Linden wiederfanden. Jetzt liegen die Texte friedlich vereint in Pappkartons, wie Kasperlpuppen im Spielzeugschrank. Was interessiert es die Lieder und Tänze des Riesengebirges, dass es nicht weit von ihnen entfernt aus einer Bücherkiste tönt Der Insulaner verliert die Ruhe nicht. Friedrich Gundolfs Schrift Stefan George in seiner Zeit muss dagegen die Anwesenheit des Kurzen Lehrgangs der Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion (Bolschewiki) ertragen, beziehungsweise umgekehrt. Auf dem Friedhof der Ideologien finde ich den Band Der Sozialdemokrat hat das Wort. Untertitel: Die Sozialdemokratie, beleuchtet durch Aussprüche von Parteigenossen. Erschienen 1911.
Unter den Linden leuchtet nur die blasse Märzsonne, während mein Blick auf die Schriften von M.W. Frunse fällt und auf den Bildband vom X. Parlament der FDJ. Habent sua fata libelli? Sind es nicht eigentlich die Leser, die ihre Schicksale haben, anstatt die Bücher? Oder wie soll ich es anders bewerten, dass ich kurz nacheinander zwei Bände der Zeitschrift Das Altertum von 1960 und 1962 finde sowie die Schwarte Vom Sinn des Soldatseins, das uns Rekruten beim Betreten der Kaserne von Fünfeichen durch sorgende Offiziere, genannt Tagesäcke, in die Hand gedrückt wurde? Zwei Wegbegleiter meines Daseins, das 1960 im Institut für Altertumskunde der Humboldt-Universität seine akademischen Weihen erhielt. Erinnerungsliteratur. Am 4. September 1960 wurden wir feierlich im Friedrichstadtpalast immatrikuliert, anschließend ging es zum Trauerzug für den gerade verstorbenen Wilhelm Pieck.
"Leute gingen vorbei, ich kannte keinen". Auch diesen Satz aus Christa Wolfs erwähntem Text kann ich mir an diesem Nachmittag zueigen machen. Aus der Unitür strömen junge Menschen, die wohl was Besseres vorhaben als eine langweilige Vorlesung. Da geht es ihnen so, wie uns vor 40 Jahren. Wenn am Freitagvormittag die GeWi-Vorlesung zuende war, rollte das studentische Plenum, abgesehen von den ersten Ideologiestreberreihen, mit der S-Bahn Richtung Zoo, um die nächsten zwei Stunden im Aki-Kino zu verbringen bei dem Neuesten aus aller Welt und lustigen Zeichentrickfilmen. Am 13. August ´61 war leider Schluss damit. Einige Wochen später wurde an der derselben Tür, wo jetzt die schönen Mädchen ins Freie treten, eine Ausweiskontrolle eingeführt, angeblich weil ein Papierkorb auf dem Gang unseres Instituts gebrannt hatte. Die Zeit verlangte auch damals keine intelligenten Begründungen.
Mich zog es ins Gebäude, an die alten Orte. Auf dem Institutsflur, wo einst der Papierkorb schmökerte, war die Erinnerung endgültig verreist. Neue Namen auf der Vorlesungsliste, keiner meiner Mitstudenten, was wohl weniger mit alt werden als mit der Evaluierung zusammenhing. Habent sua fata doctores. Mein verehrter Lehrer Rudolf Schottlaender hatte mir einst die schöne Geschichte erzählt, wie im Frühjahr ´33 der neue Rektor der seinerzeit noch Friedrich-Wilhelm-Universität genannten Lehrstätte die Studiosi auf jenem Hof antreten ließ, wo jetzt die Bücher ruhen, und ausrief: "Universität, stillgestanden!" - "Und das tat sie dann ja auch die nächsten zwölf Jahre", so lakonisch Schottlaender, dem die SED zu DDR-Zeiten verwehrte, ein Buch über die verfolgten jüdischen Wissenschaftler an dieser Uni zu veröffentlichen.
Viele Erinnerungen können einem einfallen, wenn man vor den Büchern steht. Aber auch schöne Sachen. So las ich kürzlich bei Wilhelm Parthey, was der vor 150 Jahren an gleicher Stelle mit dem Altphilologen August Wolf erlebte: "Seine Kollegien las Wolf sehr nachlässig, und verführte dadurch auch die Studenten zur Unpünktlichkeit. Kaum waren die Stunden 14 Tage lang in Gang gekommen, so strahlte uns, wenn wir voll Wißbegierde um 11 Uhr an der Thür des Auditoriums anlangten, ein weißer Zettel entgegen, auf den Wolf mit seiner charaktervollen Hand die Worte hingeworfen: Wegen meines Unwohlseins fällt die heutige Vorlesung aus. Was konnte man besseres thun, als die leere Stunde zu einem Spaziergang Unter den Linden zu benutzen? Da sah man denn, wie Wolf ganz wohlgemuth mit einem Freunde aus einer Konditorei trat, wo er gefrühstückt, und wie er dann ebenfalls im heiteren Gespräche gemächlich lustwandelte."

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