Gleich zu Beginn seiner umfassenden Darstellung vom Aufstieg und Untergang der DDR weist Wolfgang Engler auf das Risiko hin, bei seiner Gesellschaftsgeschichte des Ostens Gefahr zu laufen, allzu harmlos, allzu gemütlich, ja süßlich zu werden. Er überlasse es dem Urteil des Lesers, ob er den Herrschaftsmechanismen des verschwundenen Landes die nötige Aufmerksamkeit gezollt habe. Man kann den Autor beruhigen. Gerade seine von jeglicher Eiferei und nachträglicher Erledigung einer Leiche freie Darstellung schafft den nötigen Raum für ein kritisches Nachdenken im doppelten Sinne des Wortes über Chancen und unüberwindliche Geburtsfehler des ersten und vermutlich letzten deutschen Arbeiter-und-Bauern-Staates. Engler will die DDR »aus sich selbst heraus« beschreiben. Der 1952 in Dresden geborene Soziologe, der an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch« lehrt, untersucht dabei das Gesellschaftsmodell DDR in chronologischer wie begrifflicher Gliederung. Sein Ton ist fast durchgängig unaufgeregt, die Beispiele der einzelnen Kapitel sind ebenso schlüssig wie überzeugend. Er habe sich bemüht, die Ostdeutschen und ihre Verfaßtheit ohne Voreingenommenheit zu schilden, »so, als hätte sich dieser Abschnitt deutscher Geschichte in einer weit zurückliegenden Zeit und an einem schwer zugänglichen Ort ereignet.« Wenn man bedenkt, wie sich manche von außen kommende Beobachter den Osten gleichsam täglich neu erschaffen müssen, die ebenso banalen wie häßlichen Geschehnisse dramatisieren, um einen Plot zu erzeugen, den sie fast nur mit Schaum vorm Maul beschreiben, dann wirkt Englers Prosa absolut authentisch. Er verfällt in keinem seiner Kapitel in die gängige Schwarz-Weiß-Malerei, in das Beweihräuchern beziehungsweise Abmessern von Land und Leuten, er durchleuchtet die Grauzonen der Deutschen Demokratischen Republik und kommt zu spannenden Befunden. Schon die Eingangsgeschichte » Wie die Ostdeutschen Krieg und Nachkrieg erlebten und welche Folgen das hatte« liefert einen originellen Ansatz. Es wird aus Schüleraufsätzen zitiert, die zu Beginn des Jahres 1946 im Berliner Bezirk Prenzlauer Berg geschrieben wurden und in denen die damals Zwölf-bis Vierzehnjährigen ihre Erlebnisse schildern. Die Texte belegen, daß die Mädchen und Jungen im Unterschied zu ihren Eltern kaum Angst vor den sowjetischen Besatzern hatten, daß sie weitgehend unvoreingenommen waren, daß durch den schleppenden Wiederaufbau im Osten der Krieg viel enger mit den Alltagserfahrungen verbunden war als im Westen. »Während die Angst der Erwachsenen sich nur verwandelte, von den Bomben löste und dafür an den Russen heftete, kamen die Kinder wenigstens phasenweise von den Ängsten los. Sie strichen eine Friedensdividende ein, genossen das Gefühl der Befreiung und faßten es in Worte.«
Diese Generation wird als erste den Gründungsmythos der DDR erfahren und ermessen, der sich aus antifaschistischem wie wie sozialistischem Gedankengut definierte. Er wird später die Fessel sein, das so schmerzhaft in viele Leben hineinwirkende Ideologiekonstrukt kritisch zu befragen. Die von Engler konstatierte solidarische Mentalität von Pionieren (Kinder und Jugendliche) sowie Partisanen (Widerstandskämpfer) hat in der Praxis leider so gut wie nie funktioniert, sondern entspringt standhaftem Wunschdenken.
Das Aufbaupathos der frühen Jahre untersucht der Autor am Beispiel des Städtebaus, wie er sich in der Stalinallee, aber auch in den Retortenstädten Hoyerswerda und Eisenhüttenstadt dokumentiert. Diese Entwicklungen dienen dem Autor zur These, daß Gleichheit im Osten ursprünglich ein wichtiger gesellschaftlicher Antrieb war, der später zu lähmender Gleichmacherei geriet. »Die Standardisierung hatte sich selber überholt und in der Einförmigkeit schachmatt gesetzt.«
Einen wichtigen Platz im Buch nehmen die gesellschaftlichen Krisen und die immer wieder hoffnungsvoll begrüßten Reformen ein, die nach kurzen euphorischen Phasen abgewürgt wurden. 1953 hätten am 17. Juni die Intellektuellen sich nicht an die Seite der streikenden Arbeiter begeben, im Herbst 1956 seien die Arbeiter nicht solidarisch gewesen mit jenen Philosophen und Künstlern, die die DDR konsequent entstalinisieren wollten. Engler zählt noch einmal die verpaßten Möglichkeiten auf, beispielsweise die ökonomischen Reformprojekte der beiden Wirtschaftswissenschaftler Fritz Behrens und Arne Benary. Eine Flut vertaner Chancen, weil jegliches Experiment sogleich als Angriff auf die Macht gewertet wurde. Besonders prägnant wurde das in den Reformen nach dem Mauerbau, die von oben verordnet und gestoppt wurden. Die ostdeutsche Gesellschaft »stolperte von einer Krise in die andere, bekam Lektion auf Lektion erteilt und konnte sie doch nicht lernen.« Zum Schicksalstag der ostdeutschen Moderne und der Modernisierer erklärt der Autor den 15. Dezember 1965, als auf dem 11. Plenum des ZK der SED in außerordentlicher Schärfe Künstlern und Kulturschaffenden der Vorwurf gemacht wurde, sie hätten sich gegen die Führung des Landes verschworen. »Unter den anwesenden Angeklagten fand nur Christa Wolf die Courage zu Widerworten. Aber selbst ihr Redebeitrag spiegelte die Defensive, den argumentativen Notstand der Reformer wider.« Für Engler ist diese Zäsur wichtiger als die von Honecker zu Beginn der siebziger Jahre kurzzeitig eingeleitete Liberalisierung und der Exodus von Schriftstellern und Künstlern nach dem Rauswurf Biermanns. Am Ende der sechziger Jahre sei das produktive Kapital endgültig verspielt gewesen, die DDR habe sich von da an buchstäblich selbst aufgefressen. Stellvertretend für viele zitiert Engler die Berliner Germanistin Ursula Heukenkamp: »In dieser Zeit lief mein Verhältnis zur SED und zum Staat aus, ich meine das wörtlich: Es lief wie aus einem undichten Gefäß langsam und stetig aus.« Engler, der seine Analysen vornehmlich, und das nicht ohne Grund, an kulturellen und philosophischen Phänomenen der DDR vornimmt, kommt zu dem Schluß, daß sich nicht die Einzelnen von der Gesellschaft, sondern die zur Gesellschaft zusammengeschlossenen Einzelnen in Grenzen vom Staat emanzipierten. »Die Privatisierung blieb sozial gepolt, die Individualisierung egalitär gestimmt.«
Manche wichtigen Bereiche kommen im Buch nicht vor wie Armee, Polizei und Stasi oder bilden nur den Subtext für jene große Apathie des Landes, die schließlich in den Zusammenbruch von 1989 mündete. Englers Werk ist eine deprimierende Bilanz entgangener Möglichkeiten und nicht verwirklichter gesellschaftlicher Utopien. Der Autor stellt all das sine ira et studio fest. Bei ihm sind die vierzig Jahre DDR keine Seifenoper aus Gut und Böse, sondern ein politischer Sonderfall mit allzuvielen Opfern. Bedauernd registriert Engler deshalb die Spaltung des Widerstands gegen die herrschenden Verhältnisse in SED-Reformer und oppositionelle Märtyrer. »Die eine Fraktion wollte die Macht und übersah die Glaubwürdigkeitslücke in ihrem Anspruch. Die andere Fraktion wollte sich und das Volk gerade von der Macht befreien und ignorierte die Machtlücke in ihrem Wunsch.« Dieses Dilemma haben die Ostdeutschen als Mitgift in das vereinte Deutschland gebracht. Das könnte einer jener Gründe dafür sein, warum sich niemand im Westen ernsthaft für ihre kurze Geschichte interessiert. Ein anhaltendes Desinteresse, das dem profunden Buch Wolfgang Englers nicht zu wünschen ist.
Wolfgang Engler. Die Ostdeutschen. Kunde von einem verlorenen Land. Aufbau-Verlag Berlin. 348 Seiten.
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