Auslaufmodell Solidarität

Weder zukunftstauglich noch gerecht Die rot-grüne Rentenpolitik entlastet die Unternehmen, begünstigt die Versicherungen und spaltet die Gesellschaft

Drei Jahre Diskussion gingen der "großen" Rentenreform voraus. Im Sommer 2001 war es so weit. Nach den früheren Rentenreformen der Bundesrepublik (1957, 1972 und 1992) war dies die erste, die nicht im Konsens der Volksparteien durchgeführt wurde. Die CDU/CSU lehnte die Rentenreform im Bundestag ab, ohne dass unüberbrückbare inhaltliche Differenzen sichtbar waren.
Die Absenkung des Rentenniveaus beziehungsweise die Ersetzung umlagefinanzierter Rentenanteile durch kapitalgedeckte Privatvorsorge ist wohl der weitreichendste und einschneidendste Teil der Rentenreform des vergangenen Jahres. Von der Minderung des Rentenniveaus betroffen sind sowohl die aktuellen RentnerInnen, die vorübergehend nur einen Inflationsausgleich erhalten haben, als auch künftige Rentnergenerationen, deren Ansprüche langfristig erheblich sinken. Der vor der Wahl heftig kritisierte und danach publikumswirksam ausgesetzte Demographiefaktor der Blümschen Rentenreform wurde quasi durch die Hintertür wieder eingeführt. Letztlich ist das Ziel, den Lebensstandard mit den Leistungen der gesetzlichen Rentenversicherung zu sichern, aufgegeben worden. Als Alternative wird auf die private und betriebliche Altersvorsorge verwiesen. Da die abhängig Beschäftigten - abgesehen von dem staatlichen Zuschuss - allein für die private Vorsorge aufkommen sollen, bedeutet dies einen partiellen Ausstieg aus der paritätischen Beitragsfinanzierung. Die Unternehmen wurden durch die rot-grüne Rentenreform finanziell entlastet, die jüngere Generation dagegen belastet.
Der Einstieg in die kapitalgedeckte Altersvorsorge ist nicht prinzipiell abzulehnen, da die Verteilung von Risiken auf verschieden finanzierte Säulen sinnvoll sein kann. Bei der freiwilligen privaten Altersvorsorge à la Riester sind allerdings keine Elemente des sozialen Ausgleichs enthalten. Zeiten der Kindererziehung, der Pflege, der Arbeitslosigkeit, der Krankheit oder Ausbildung werden nicht angerechnet. Ebenso wenig ist eine Hinterbliebenenversorgung oder die Absicherung bei Invalidität vorgesehen. Dafür sind Elemente enthalten, die Frauen benachteiligen, wie etwa die höheren Tarife beziehungsweise geringeren Leistungen für Frauen. Zudem werden sich Geringverdiener, kinderreiche Familien, Alleinerziehende und Arbeitslose die private Vorsorge oft nicht leisten können. Ob die staatliche Förderung als Anreiz ausreicht, ist also fraglich. Gerade die genannten Personengruppen trifft aber die Absenkung des Rentenniveaus besonders hart. Die Freiwilligkeit der zusätzlichen privaten Vorsorge dürfte ungewollt zu noch größerer Einkommensungleichheit und zu Armut im Alter führen.
Neben der privaten ist auch die betriebliche Alterssicherung gestärkt worden - allerdings erst auf Druck der Gewerkschaften, die gegen die rot-grünen Rentenreformpläne heftig protestierten. Da die betriebliche Altersvorsorge Vorteile gegenüber der privaten aufweist, wie Einsparungen bei Verwaltungskosten, leichtere Durchsetzung solidarischer Elemente und eine mögliche Beteiligung der Arbeitgeber an den Kosten, ist diese Art der Förderung generell positiv zu werten. Problematisch ist allerdings, dass nicht alle Beschäftigten in den Genuss generöser betrieblicher Altersvorsorgemaßnahmen kommen und dass die gesetzliche Rente dadurch ersetzt und nicht (mehr) ergänzt werden soll.
Nach der Einführung der privaten und der betrieblichen Altersvorsorge sind weitere Rentenniveaukürzungen zu erwarten. Ist die Tür einmal geöffnet, werden die kapitalgedeckten Altersvorsorgeformen schrittweise die umlagefinanzierte Rente ersetzen. Bundeskanzler Schröder kündigte Anfang 2002 bereits an, dass beide Säulen der Alterssicherung im Zuge der Zeit gleich dick werden würden, wenn sich das Verhältnis nicht sogar umkehre. Die Finanzdienstleister profitieren, die Arbeitgeber sparen Lohnnebenkosten, die Gewerkschaften bauen ihren Einflussbereich im Rahmen der betrieblichen Altersvorsorge aus, und die gut verdienende Bevölkerung hat finanzielle Vorteile durch private Anlageformen.
Den Kleinst-Rentnern dagegen wird der Gang zum Sozialamt und das jährliche Offenlegen der Einkommens- und Vermögenssituation nicht erspart und verdeckte Armut im Alter nicht beseitigt, weil mit der Rentenreform 2001 keine soziale Grundsicherung im Rahmen der gesetzlichen Rentenversicherung eingeführt wurde. Es wird auch kein rentenrechtlicher Ausgleich für unstete Erwerbsbiographien, für Phasen der Teilzeitarbeit sowie für die Ausübung einer prekären und/oder niedrig entlohnten Beschäftigung geboten.
Bestenfalls halbherzig waren die Reformen zur Einbeziehung von Scheinselbstständigen und geringfügig Beschäftigten in die Sozialversicherungen. Die Differenzen zwischen Selbstständigen und Scheinselbstständigen sowie zwischen sozialversicherungs- und steuerpflichtigen Teilzeitbeschäftigten einerseits und geringfügig Beschäftigten andererseits bestehen weiter. Die in der Koalitionsvereinbarung angekündigte soziale Absicherung jeder dauerhaften Erwerbsarbeit und unsteter Erwerbsverläufe ist in den Anfängen steckengeblieben. Vorschläge einer "bedingten individuellen Mindestrente" und/oder einer "bedarfsorientierten Mindestsicherung" wurden nicht umgesetzt. Sie hätten den Vorteil, (versteckte) Altersarmut zu beseitigen, eine eigenständige Mindest-Alterssicherung für Frauen zu fördern und unstete Erwerbsverläufe rentenrechtlich abzusichern. Es wäre auch denkbar, nicht die gesamte Erwerbsbiographie in die Rentenberechnung einzubeziehen, sondern nur die "besten" 30 oder 40 Erwerbsjahre, wie dies in anderen europäischen Ländern bereits seit längerem der Fall ist. Auf diese Weise würden sich Lücken in der Erwerbsbiographie und prekäre Beschäftigungsverhältnisse rentenrechtlich nicht in vollem Umfang nachteilig auswirken.
Positiv ist zu werten, dass der Bund die Beitragszahlungen für Kindererziehungszeiten übernimmt. Rentenrechtliche Verbesserungen für Frauen sind auch die kinderbezogene Höherbewertung von Beitragszeiten und die Kinderkomponente in der Hinterbliebenenversorgung. Da aber gleichzeitig die Hinterbliebenenversorgung in doppelter Weise von Kürzungen betroffen ist - einmal von der allgemeinen Rentenniveausenkung, zum anderen von der Minderung der Witwen-/Witwerrente -, haben die Frauen keinen Grund zu jubeln. Auch deshalb nicht, weil die drei Jahre Kindererziehung, die für Geburten ab 1992 gelten, nicht rückwirkend auf die Versichertenrenten aller Mütter angerechnet werden.
Die soziale Schieflage der rot-grünen Rentenreform 2001 wird um so deutlicher, wenn man sie mit dem alternativen Rentenkonzept der IG BAU vergleicht, das in der Debatte um die "Riester-Rente" unverdientermaßen untergegangen ist. Nach diesem Konzept soll die gesamte Wohnbevölkerung ab dem 16. Lebensjahr unabhängig von einer Erwerbstätigkeit in die gesetzliche Rentenversicherung einbezogen werden. Wenn jemand nicht den (von der IG BAU mit 102 Euro bezifferten) Mindestbeitrag aufbringen kann, müssen staatliche Zuschüsse geleistet werden. Auch Beamte und Selbstständige sind - unter Einhaltung langer Übergangszeiten - beitragspflichtig, und alle zu versteuernden Einkommensarten werden einbezogen. Die Beitragsbemessungsgrenze fällt ebenso weg wie die Hinterbliebenenversorgung nach einer Übergangsphase. Nach 44 Beitragsjahren, im Alter von 60 Jahren, erhält jeder eine Rente auf dem Niveau von 70 Prozent des Nettolohnes. Kindererziehungszeiten werden aufgewertet. Wer allerdings früher in Rente gehen will, muss Abschläge in Kauf nehmen. Gleichzeitig könnte nach dem Modell der IG BAU der Beitragssatz dauerhaft unter 20 Prozent stabilisiert werden. Um dies zu erreichen, sollen die Renten bei etwa 2.300 Euro brutto (bezogen auf das Jahr 2000) gedeckelt werden. Private und betriebliche Altersvorsorge ist hier freiwillig und als Ergänzung zur gesetzlichen Rente gedacht.

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