„Kürzungen waren nie alternativlos“

Rentenpolitik In einem reichen Land wie Deutschland müssen alle im Alter in Würde leben können, fordert der Ver.di-Ökonom Dierk Hirschel
Im Alter angeschmiert
Im Alter angeschmiert

Bild: Sean Gallup/Getty Images

Die soziale Absicherung des Alters war einst eine große Errungenschaft des Sozialstaats. Konrad Adenauer sorgte mit der großen Rentenreform 1957 dafür, dass unsere Großeltern und Eltern in Würde altern konnten. Vier Jahrzehnte lang schützte die gesetzliche Rente vor Armut und sicherte den Lebensstandard. Im 21. Jahrhundert droht dieser soziale Fortschritt unter die Räder zu kommen.

Die Rückkehr der Altersarmut steht bevor. Über eine Million ältere und erwerbsgeminderte Menschen sind heute bereits auf Grundsicherung – durchschnittlich 800 Euro – angewiesen. Ihre Zahl hat sich in den letzten zehn Jahren verdoppelt. Hinzu kommt die versteckte Altersarmut. Jede dritte anspruchsberechtigte Rentnerin geht nicht zum Sozialamt. Zwar gelten aktuell nur drei Prozent der über 65 Jährigen im Sinne des Sozialgesetzbuches als arm. Zukünftig droht aber Altersarmut zu einem Massenphänomen zu werden.

Schon heute sichert die gesetzliche Rente nicht mehr den Lebensstandard. Die Rente hinkt den Löhnen hinterher. Die Einkommensposition der Rentner verschlechtert sich gegenüber den Beschäftigten. Die Standardrente – eine Rente nach 45 Jahren Durchschnittsverdienst – liegt im Westen der Republik abzüglich Kranken- und Pflegeversicherungsbeiträge bei 1220 Euro im Monat. Dieser Betrag entspricht nur noch 47,9 Prozent des mittleren Arbeitseinkommens. Zur Jahrtausendwende lag das so genannte Rentenniveau vor Steuern noch bei 52,9 Prozent. Bis 2045 droht ein Sinkflug auf 41,6 Prozent. Wenn das Rentenniveau bereits heute so niedrig wäre, dann hätte der Standardrentner monatlich 180 Euro weniger in der Tasche.

Damit aber nicht genug. Der Standardrentner repräsentiert schon lange nicht mehr die Mehrheit der Beschäftigten. Millionen Menschen haben gebrochene und lückenhafte Erwerbsbiographien. In den alten Bundesländern zahlen erwerbstätige Männer im Schnitt nur 41 Jahre in die Rentenkasse ein, berufstätige Frauen lediglich 30 Jahre. Zudem arbeiten immer mehr Beschäftigte für geringe Löhne und Gehälter. Folglich ist die Durchschnittsrente kleiner als die Standardrente. Westdeutsche Neurentner (Rentenzugang 2015) bekommen 1014 Euro im Monat. Die westdeutschen Neurentnerinnen erhalten nur 583 Euro. Im Osten erhalten Männer 973 Euro und Frauen 860 Euro.

Das Risiko im Alter in den Armutskeller zu stürzen, trifft künftig auch die Mitte der Gesellschaft. Wer monatlich 2500 Euro brutto hat, muss heute mehr als 34 Jahre in die Rentenkasse einzahlen, um später nicht auf dem Sozialamt zu landen. Bei einem Rentenniveau von 43 Prozent müsste derselbe Arbeitnehmer bereits 38 Jahre arbeiten, um später nicht auf Grundsicherung angewiesen zu sein. Da jeder zweite sozialversicherte Beschäftigte – rund 12,5 Millionen Personen – weniger als 2500 Euro bezieht, droht künftig Millionen Rentnern der Gang zum Sozialamt. Wenn aber jahrzehntelange Arbeit nicht mehr vor Altersarmut schützt, dann wird das Vertrauen in die gesetzliche Rentenversicherung zerstört.

Ursachen der Altersarmut

Die Rückkehr der Altersarmut ist politisch gemacht. Der Ausbau des Niedriglohnsektors, die Förderung unsicherer Arbeit und eine asoziale Rentenpolitik sind dafür verantwortlich, dass künftig viele Menschen von ihrer Rente nicht mehr leben können.

Die Zerstörung der Ordnung auf dem Arbeitsmarkt hat Arbeit entwertet. Jeder vierte Beschäftigte oder über acht Millionen Arbeitnehmer arbeiten für einen Niedriglohn unter 9,30 Euro. Der Mindestlohn verbesserte zwar die Löhne von rund vier Millionen Geringverdienern. Doch auch ein Mindestlohn von 8.84 Euro verhindert nicht, dass Geringverdiener im Rentenalter zum Sozialamt müssen. Der millionenfache Zuwachs an prekären Jobs – Minijobs, Teilzeit, Zeitarbeit, Werksverträge, Soloselbständigkeit – drückt auf die Rentenansprüche. Besonders betroffen sind Frauen, die mehrheitlich in Teilzeit oder Minijobs arbeiten.

Immer mehr Armutslöhne, unsichere Jobs und weniger Tarifbindung drücken die allgemeine Lohnentwicklung. Im letzten Jahrzehnt kamen die Reallöhne nicht mehr vom Fleck. Die Lohnschwäche bremste Renten und Beitragseinnahmen. Die Rückkehr der Altersarmut ist aber nicht nur der Entwertung menschlicher Arbeit geschuldet. Sie ist auch rentenpolitisch verursacht.

Die so genannten Rentenreformen der Schröder- und Merkel-Regierung führten zu einem radikalen Kurswechsel in der Rentenpolitik. Die rot-grüne Bundesregierung organisierte den Einstieg in den Ausstieg aus der dynamischen Rente mit Lohnersatzfunktion. Sie opferte den Schutz vor Armut und die Lebensstandardsicherung für stabile Beiträge.

Die neue Rentenpolitik sollte verhindern, dass die Arbeitgeberbeiträge künftig steigen. Die so genannten Lohnnebenkosten hatten aber überhaupt kein Fett angesetzt. Seit Anfang der 80 Jahre blieben die realen Arbeitskosten hinter den Produktivitätszuwächsen zurück. Der mehrmalige Gewinn der Exportweltmeisterschaft dokumentierte die hohe globale Wettbewerbsfähigkeit deutscher Unternehmen. Die Bundesregierung wollte sich aber nicht durch Fakten von ihrer Meinung ablenken lassen. Folglich wurde gesetzlich festgeschrieben, dass der Beitragssatz bis 2030 die 22 Prozent-Marke nicht überschreiten darf. Dafür wurde die gesetzliche Rente um rund 20 Prozent gekürzt. Das war der größte Sozialabbau in der Geschichte der Republik. Die Arbeits- und Lebensleistung von Millionen Menschen wurde entwertet.

Die „Rentenreformen“ entkoppelten die Rente von der Lohnentwicklung. Dafür wurde die Rentenformel geändert. Der Zugang zur Erwerbsminderungsrente wurde erschwert. Für Langzeitarbeitslose wurde nichts mehr in die Rentenkasse eingezahlt. Nachdem die Wähler Gerhard Schröder in Rente geschickt hatten, setzte die Merkel-Regierung den Raubbau an der gesetzlichen Rente fort. Der rote Arbeitsminister Müntefering führte die Rente mit 67 ein. Wer heute früher in Rente geht, da er nicht länger arbeiten kann, muss seitdem höhere Abschläge in Kauf nehmen. So wurde Stahl- und Bauarbeitern, Erzieherinnen und Krankenpflegern indirekt die Rente gekürzt.

Gleichzeitig sollte die betriebliche und private kapitalgedeckte Altersvorsorge ausgebaut werden, um die neue Rentenlücke schließen. Dieses Vorhaben ist gescheitert! Heute haben nur drei von fünf Beschäftigten eine Betriebsrente. In klein- und mittelständischen Betrieben hat nicht einmal jeder dritte Arbeitnehmer eine betriebliche Altersvorsorge. Die private Vorsorge konnte die Rentenkürzungen nicht ausgleichen. Hohe Vertriebs- und Verwaltungskosten, kleine Garantiezinsen und rückläufige Überschussbeteiligungen drücken die Erträge. Darüber hinaus können Millionen Geringverdiener nicht privat vorsorgen, da Ihnen das nötige Kleingeld fehlt. Nur sieben Prozent der ärmsten Beschäftigten haben eine private Altersvorsorge.

Für Friseure, Lageristen und Kassiererinnen bleibt die gesetzliche Rente das einzige Alterseinkommen. Sie leiden unter den Rentenkürzungen und finanzieren mit ihren Steuern die Riester- und Rürüp-Renten der Besserverdienenden. Profitiert haben aber auch die Arbeitgeber. Ihr Rentenbeitrag wurde bei elf Prozent gedeckelt, während Arbeitnehmer, wenn sie privat vorsorgen, 15 Prozent zahlen – 11 Prozent für die gesetzliche Rente plus vier Prozent für die private Vorsorge. So wurde die paritätische Finanzierung aufgekündigt.

Produktivität schlägt Demografie

Die Rentenkürzungen waren nie alternativlos. Ein längeres Leben und weniger Kinder machen die Rente nicht unbezahlbar. Tatsächlich schrumpft und altert Deutschland. Die Lebenserwartung steigt und die Geburtenrate sinkt. Deswegen werden immer weniger beitragszahlende Beschäftigte immer mehr Rentner versorgen.

Die Wiesbadener Zahlenakrobaten sagen voraus, dass 2060 hierzulande nur noch 73 Millionen Menschen leben. Die wirtschaftlich aktive Bevölkerung – Personen im Alter zwischen 20 und 65 Jahren – soll um 12 Millionen schrumpfen. Heute versorgen drei Erwerbsfähige einen Rentner. In 44 Jahren sollen auf einen Rentner nur noch 1,6 arbeitsfähige Menschen kommen. Dieser demografische Wandel ist aber nichts Neues. Zwischen 1950 und 2010 halbierte sich schon einmal die Zahl der Erwerbsfähigen, die einen Rentner versorgen musste. Gleiches gilt für den Zeitraum von 1910 bis 1960. Damals zwangen die höheren Versorgungslasten die Älteren aber nicht dazu, den Gürtel enger zu schnallen. Im Gegenteil: Die Renten stiegen, ohne dass die Jüngeren unter der größeren Last zusammenbrachen.

Wie war das möglich? Die Lösung des Rätsels heißt Produktivitätsfortschritt. Während die jährliche Arbeitszeit schrumpft, steigt die Wertschöpfung pro Kopf. Drei Beschäftigte produzieren heute mehr als sechs Beschäftigte vor 60 Jahren. Technischer Fortschritt, eine effizientere Unternehmensorganisation und höhere Bildung werden auch in Zukunft dafür sorgen, dass der einzelne Arbeitnehmer immer mehr Waren und Dienstleistungen erzeugen kann. Dank steigender Arbeitsproduktivität können wir auch in Zeiten demografischen Wandels einen höheren Wohlstand genießen.

Ein moderates jährliches Produktivitätswachstum von 1,4 Prozent würde mehr als ausreichen, um die kommenden demografischen Herausforderungen zu bewältigen. Dafür müsste nicht einmal die Erwerbsbeteiligung steigen. Die preisbereinigten Einkommen – reales Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung – würden trotz schrumpfender Erwerbsbevölkerung bis 2060 um 70 Prozent wachsen. Produktivität schlägt Demografie!

Die Produktivitäts- und Einkommenszuwächse werden aber nur dann genutzt, wenn das Kuchenstück der Beschäftigten nicht kleiner wird. Dafür müssen die Reallöhne mindestens genau so stark steigen wie die Produktivität. Deswegen ist eine erfolgreiche Lohn- und Tarifpolitik gut für die Rente. Die Rentenfrage ist immer auch eine Verteilungsfrage. Allerdings verläuft der Verteilungskonflikt nicht zwischen Jung und Alt, sondern zwischen Beschäftigten und Arbeitgebern.

Noch größer wird der Finanzierungsspielraum der gesetzlichen Altersvorsorge, wenn es gelingt, mehr Menschen in Arbeit zu bringen. Eine höhere Erwerbsbeteiligung verbessert das Verhältnis von Beitragszahlern zu Rentnern.

Kurswechsel in der Rentenpolitik

In einem reichen Land müssen Alle im Alter in Würde leben können. Der emanzipatorische Grundgedanke der Sozialversicherung war, die Menschen von staatlicher oder mildtätiger Zuweisung unabhängig zu machen. Wer sein Leben lang gearbeitet hat, darf im Alter nicht in den Armutskeller stürzen. Das ist eine Frage der sozialen Gerechtigkeit.

Wir brauchen einen Kurswechsel in der Rentenpolitik. Das Sicherungsziel sollte wieder im Zentrum der Rentenpolitik stehen. Wenn die gesetzliche Rente Lohnersatz sein soll, muss zunächst der Sinkflug des Rentenniveaus gestoppt werden. Anschließend muss das Rentenniveau deutlich erhöht werden. Zudem sollte die gesetzliche Rente wieder eng an die Lohnentwicklung gekoppelt werden. Hierfür muss die Rentenformel korrigiert werden.

Ein höheres Rentenniveau allein reicht aber nicht aus, um Altersarmut zu verhindern. Zeiten der Arbeitslosigkeit, Kindererziehung, Aus- und Weiterbildung, Pflege sowie gering entlohnte Erwerbsphasen sollten rentenrechtlich aufgewertet werden. So werden Menschen mit gebrochenen Erwerbsbiographien besser vor Altersarmut geschützt. Die Wiedereinführung der Rente nach Mindestentgeltpunkten wäre ein wichtiger Schritt in diese Richtung.

Die Rente mit 67 muss weg. Statt höherem Renteneintrittsalter brauchen wir flexible Übergänge in die Rente. Geförderte Altersteilzeit, ein Mix von Teilzeitarbeit und Teilrente sowie ein Teilrentenbezug ab 60 wären richtige Instrumente. Darüber hinaus müssen die Erwerbsminderungsrenten aufgestockt und der Zugang erleichtert werden. Wer aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr arbeiten kann, darf nicht mit hohen Abschlägen bestraft werden.

Diese Rentenreformen sind bezahlbar. Produktivitätszuwächse und steigende Löhne vergrößern den Finanzierungsspielraum der gesetzlichen Rente. Trotzdem werden die Beiträge steigen müssen. Höhere Beiträge werden aber akzeptiert, wenn sie zu höheren Renten führen. Zudem sinkt für viele Beschäftigte die Gesamtbelastung, wenn nicht mehr privat vorgesorgt werden muss. Gesellschaftliche Aufgaben wie Mütterrente oder die rentenrechtliche Aufwertung von Niedriglöhnen sollte über Steuerzuschüsse finanziert werden. Die Finanzen der Rentenversicherung können auch durch eine höhere Erwerbsbeteiligung gestärkt werden. Mehr sozial Versicherte, weniger Arbeitslose, mehr arbeitende Frauen und Zuwanderer erhöhen die Beitragseinnahmen.

Mittelfristig sollte die gesetzliche Rentenversicherung zu einer Erwerbstätigenversicherung ausgebaut werden, die alle Erwerbstätigen und Einkommensarten einbezieht. Sie garantiert Berufstätigen eine gesetzliche Rente unabhängig von der Erwerbsform und stellt deren Finanzierung auf eine breitere Grundlage.

Die Gewerkschaften wollen auch eine bessere betriebliche Altersvorsorge. Künftig sollten alle Arbeitgeber gesetzlich verpflichtet werden, eine betriebliche Altersvorsorge anzubieten. Dieses Angebot würde dann fester Bestandteil jedes Arbeitsvertrags. Es sei denn, der Beschäftigte will das nicht. Desweiteren dürfen Betriebsrenten nicht mehr auf die Grundsicherung im Alter angerechnet werden.

Riester hingegen ist gescheitert. Die staatliche Förderung der privaten kapitalgedeckten Vorsorge sollte eingestellt werden. Steuergeld, welches heute für Riester-Produkte verbrannt wird, sollte künftig wieder in die gesetzliche Rentenkasse fließen.

Die Gewerkschaften haben die Zukunft der Rente zum Gegenstand einer lang angelegten Kampagne gemacht. Die Rentenpolitik soll zunächst zu einem zentralen Thema der Bundestagswahl 2017 werden. Verdi, IG Metall & Co werden aber so lange weiter Druck machen, bis die gesetzliche Rente ein Altern in Würde wieder ermöglicht.

Dierk Hirschel ist seit 2011 Ver.di-Bereichsleiter Wirtschaftspolitik

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