Die große Koalition arbeitet auf Hochtouren. Im Maschinenraum heizen die roten Strolche richtig ein. Nach der Rente mit 63 kommt schon bald der Mindestlohn. Das ist eine gute Nachricht. Die schlechte Nachricht ist, dass heute noch unklar ist, ob dort wo Mindestlohn draufsteht auch Mindestlohn drin sein wird. Wie so häufig in der Politik, steckt auch diesmal der Teufel im Detail.
Die Arbeitgeberverbände, ihre wirtschaftsliberalen Denkfabriken und journalistischen Hilfstruppen haben den Kampf gegen einen Mindestpreis für die Ware Arbeitskraft verloren. Die Reaktionen fallen jedoch sehr unterschiedlich aus. Während die Arbeitgeberverbände jetzt versuchen auf die Ausgestaltung des Mindestlohngesetzes Einfluss zu nehmen, spielt eine verwahrloste Zunft neoliberaler Ökonomen lieber den Taliban.
IFO-Präsident Hans Werner Sinn und der oberste „Wirtschaftsweise“ Christoph Schmidt zeigen noch immer den Horrorfilm „Jobkiller Mindestlohn“. Da staunt der Laie und der Fachmann wundert sich. Schließlich schreckt die Ankündigung eines drohenden Exodus hunderttausender Arbeitsplätze heute niemand mehr. Nur noch wenige glauben noch an das Märchen vom bösen Mindestlohn, der die Menschen dazu zwingt, ihre Haare selbst zu schneiden, die Blumen am Wegrand zu pflücken und das Feierabendbier zu Hause zu trinken.
Die Mehrheit der deutschen Ökonomen hat ein großes Glaubwürdigkeitsproblem. Zu häufig fiel die heimische Zunft durch den Praxistext. Der aktuelle Stand der internationalen Arbeitsmarktforschung besagt, dass der Mindestlohn keine Arbeitsplätze kostet. Dies gilt für die USA genauso wie für unsere europäischen Nachbarn. Ältere Studien, die zu anderen Ergebnissen gelangten, wurden mit verfeinerten Methoden überprüft und widerlegt. Auch für den deutschen Arbeitsmarkt konnten keine Jobverluste einer Lohnuntergrenze nachgewiesen werden. Mehrere Studien im Auftrag des Arbeitsministeriums fanden heraus, dass die realexistierenden deutschen Branchenmindestlöhne keine Arbeitsplätze zerstören.
Die Theorie ist falsch
Wenn die Erfahrung die Theorie ständig Lügen straft, ist das nicht das Problem der Praxis. Die einfache neoklassische Modellwelt macht die Beschäftigung abhängig von der Lohnhöhe. Falls der Reallohn der marginalen Beschäftigtenproduktivität entspricht, herrscht Vollbeschäftigung. Deswegen ist der Mindestlohn aus neoklassischer Sicht komplett nutzlos: Entweder er liegt unter dem so genannten Gleichgewichtslohn, dann schadet er nicht. Liegt er über dem Gleichgewichtslohn, entsteht nur Arbeitslosigkeit.
Der Arbeitsmarkt ist aber kein Kartoffelmarkt, wo allein der Preis über Angebot und Nachfrage bestimmt. Perfekte Märkte gibt es nur in der Theorie. In der realen Welt verfügen Arbeitnehmer und Arbeitgeber über unterschiedliche Marktmacht. Die abhängig Beschäftigten sind durch Familie, soziale Netze oder Wohneigentum an lokale Arbeitsmärkte gebunden. Zudem beschränken spezifische berufliche Qualifikationen ihre Arbeitsplatzwahl.
In strukturschwachen Regionen, wie der Lausitz oder der Oberpfalz, wo wenige Unternehmen den örtlichen Arbeitsmarkt beherrschen, können die Firmenchefs die Löhne drücken, ohne dass ihnen die Beschäftigten davonlaufen. Natürlich könnten die Arbeitnehmer versuchen, sich in Gewerkschaften zusammenschließen, um ihre schlechte Verhandlungsposition zu verbessern. Im von Kleinbetrieben und unsicheren Arbeitsverträgen geprägten Niedriglohnsektor fällt dies jedoch besonders schwer.
Erst die Einführung eines Mindestlohns begrenzt die regionale Macht der Unternehmen. Da dort die niedrigen Entgelte unter der Produktivität liegen, führt ein kräftiges Lohnplus nicht zu sofortigen Entlassungen. Es schrumpfen lediglich die Extragewinne der Lohndrücker.
Auch die Volkswirtschaft profitiert
Gesamtwirtschaftlich tut der Mindestlohn der Volkswirtschaft gut. Ein gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro würde die Niedriglöhne im Schnitt um mehr als ein Drittel erhöhen. Ohne Jobverluste steigt die Lohnsumme. Da zugleich der Haarschnitt, die Zeitung, das Taxifahren und die Blumen ein paar Cent teurer werden, verlangsamt sich allerdings der Reallohnzuwachs. Die Löhne steigen aber stärker als die Preise. Zudem bleibt viel netto vom brutto, da Geringverdiener wenig Steuern und Abgaben zahlen. Niedriglohnempfänger geben in der Regel jeden zusätzlichen Euro aus. Folglich kurbelt das Lohnplus den privaten Konsum kräftig an.
Die gestiegene Binnennachfrage führt zu mehr Investitionen und schafft neue Jobs. Darüber hinaus profitieren die Staatskassen von der besseren wirtschaftlichen Entwicklung durch zusätzliche Steuer- und Beitragseinnahmen sowie geringere Sozialausgaben. Gleichzeitig fördert der Mindestlohn einen Qualitätswettbewerb. Die Unternehmen werden gezwungen, ihre Arbeitsprozesse effizienter zu organisieren. Manche Firmen müssen ihre Produkte und Dienstleistungen verändern oder neue Märkte erschließen. Unternehmer müssen wieder in die Qualifikation ihrer Beschäftigten investieren. Die Arbeitsmotivation und Betriebsbindung der Beschäftigten steigt.
All das hat sich inzwischen herumgesprochen. Kein Wunder, dass der ehemalige Kassenschlager „Jobkiller Mindestlohn“ heute kein Publikum mehr findet. Harte Zeiten für neoliberale Glaubenskrieger.
Suche nach Hintertüren
Die pragmatischen Mindestlohngegner suchen hingegen nach Hintertüren, um die neue gesetzliche Lohnuntergrenze künftig systematisch zu unterlaufen. Während der Koalitionsverhandlungen warnten die Arbeitgeber vor einem zu hohem Mindestlohn. Ein Einstieg mit 8,50 Euro wäre aus Unternehmenssicht zu viel des Guten. Zwischen Rostock und Freiburg kämen knapp fünf Millionen Menschen, oder 15 Prozent aller abhängig Beschäftigten in den Genuss einer kräftigen Lohnerhöhung. Im Osten würde fast jeder dritte Beschäftigte vom Mindestlohn profitieren.
Eine solch große Reichweite des Mindestlohns sei nach Auffassung der Arbeitgeber europaweit einzigartig. Folglich wären die arbeitsmarktpolitischen Risiken dieses angeblich historischen Realexperiments unkalkulierbar. In Wirklichkeit ist jedoch der Einstiegswert von 8,50 Euro im westeuropäischen Vergleich eher moderat. Unter Berücksichtigung der unterschiedlichen Lebenshaltungskosten (Kaufkraftstandards pro Stunde) liegt das deutsche Mindestlohnniveau von 8,50 Euro im oberen Mittelfeld. In Frankreich, Großbritannien, Belgien, Luxemburg oder Irland wird mehr Mindestlohn ausgezahlt.
Die Klagelieder der Mindestlohngegner trafen beim Wirtschaftsflügel der Unionsparteien auf offene Ohren. Zwar einigten sich Merkel, Gabriel und Seehofer im Koalitionsvertrag auf einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro. Der Preis dafür war eine Verschiebung des Mindestlohnstarts auf 2015, die Möglichkeit tariflicher Abweichungen, und das Einfrieren der Mindestlohnhöhe bis 2018.
Mit diesem politischen Kompromiss geben sich jedoch die Mindestlohngegner nicht zufrieden. Deshalb streiten sie jetzt vehement für weit reichende Ausnahmen. In den Koalitionsverhandlungen hatten sich Konservative und Sozialdemokraten bereits darauf geeinigt, Auszubildende und Schüler vom Mindestlohn auszunehmen. Diese Ausnahmen waren noch unproblematisch, da Ausbildungsverhältnisse und Pflichtpraktika keine Arbeitsverhältnisse sind.
Vom Alter abhängige Bezahlung?
Jetzt fordern aber BDA-Präsident Kramer, BDI-Präsident Grillo und DIHK-Präsident Schweitzer, dass nach Alter, Qualifikation und Berufserfahrung differenziert wird. Jugendliche, Studenten, Rentner, Langzeitarbeitslose, Saisonarbeiter, Hilfskräfte und geringfügig Beschäftigte sollen keinen gesetzlichen Anspruch auf 8,50 Euro erhalten. Die meisten Ausnahmen werden mit dem bekannten Jobkiller-Argument begründet:
Wenn Erntehelfer den Mindestlohn bekämen, würde das Gemüse auf dem Feld verfaulen. Wenn Zeitungszusteller 8,50 Euro zahlen müssten, dann wäre die Pressefreiheit in Gefahr. Taxis würden mit dem Mindestlohn im Tank direkt in die Pleite fahren. Hochschulabsolventen würden mit einem Stundenlohn von 8,50 Euro kein Praktikum finden. Für Langzeitarbeitslose gäbe es keine Arbeit. Minijobber bekämen mit Mindestlohn überdurchschnittlich mehr netto vom brutto. Dadurch würden falsche Anreize zulasten sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung entstehen.
Doch damit nicht genug: Jugendliche, die für 8,50 Euro arbeiten könnten, würden angeblich keine Berufsausbildung machen. Alternativ wird behauptet, der Mindestlohn treibe junge Menschen in die Arbeitslosigkeit. Deswegen gäbe es in Großbritannien, Holland und Frankreich für junge Leute auch nur den Mindestlohn Light.
Willkürliche Schreckenszenarien
Es ist gut, dass die rote Arbeitsministerin diese willkürlichen Schreckensszenarien bisher ignoriert hat. Der Arbeitgeberlobby geht es nur darum, einige auf Lohndumping basierende Geschäftsmodelle zu retten. Denn eines ist klar: Das bisherige Stücklohnmodell vieler Zustellfirmen und Zeitungsverlage würde mit einem Mindestlohn von 8,50 Euro nicht mehr funktionieren. Auch das Taxigewerbe müsste seine umsatzorientierte Entlohnung umstellen.
Darüber hinaus würde sich für viele Unternehmen die Aufspaltung von regulären Vollzeitstellen in geringer entlohnte Teilzeit- oder Minijobs nicht mehr rechnen. Im Gegenteil: Sozialversicherungspflichtige Beschäftigung würde sogar aufgewertet. Diese Erfahrungen wurden bereits bei der Einführung des Branchenmindestlohns im Reinigungsgewerbe gemacht.
Einen besonderen Handlungsbedarf bei Jugendlichen gibt es nicht. Die hohe Jugendarbeitslosigkeit in Frankreich ist nicht dem Mindestlohn geschuldet, sondern der Wirtschaftskrise und einem defizitären Ausbildungssystem. Selbst der gewerkschaftlicher Nähe völlig unverdächtige Club der Industrieländer (OECD) kam in einer internationalen Untersuchung zu dem Ergebnis, dass Mindestlöhne den Jugendlichen keine Jobs klauen. Folglich besteht überhaupt kein Grund, aus unseren Nachbarländern Ausnahmeregelungen für junge Beschäftigte zu übernehmen. Lediglich einige Berufsausbildungsgänge müssten hierzulande künftig attraktiver gestaltet werden.
Die Merkel-Regierung darf jetzt den Forderungen der Arbeitgeber nach weit reichenden Ausnahmeregelungen nicht nachgeben. Sonst wird aus dem Mindestlohngesetz ein Schweizer Käse. Im schlimmsten Fall – alle geforderten Ausnahmen - würden zwei Millionen Billiglöhner keinen Mindestlohn bekommen. Dies entspricht fast 40 Prozent aller potenziellen Mindestlohnempfänger.
Ausnahmen bewirken Verdrängungseffekte
Aber auch Ausnahmen für einzelne soziale Gruppen und Berufsgruppen würden sofort massive Verdrängungseffekte nach sich ziehen. Wenn beispielsweise Rentner oder Jugendliche keinen Mindestlohn bekämen, würden die Firmen Mindestlohnberechtigte mittleren Alters durch junge und alte Beschäftigte ersetzen. Die Ausnahmen konzentrieren sich auf wenige Branchen.
Im Einzelhandel, im Gastgewerbe, in der Pflege, in der Landwirtschaft oder bei den Verlagen würden flächendeckend Mindestlohnberechtigte durch Beschäftigte ersetzt, die vom Mindestlohn ausgenommen sind. Anschießend würden andere Branchen dieselben Ausnahmeregelungen für sich einfordern. Kurzum: Wenn die große Koalition die Tür beim Mindestlohn auch nur einen Spalt öffnet, dann bekommt sie die Tür nie mehr zu. Unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns würde es dann weiterhin Armutslöhne geben.
Die Gewerkschaften haben bei den bisherigen rot-schwarzen Verabredungen zum gesetzlichen Mindestlohn einige Kröten schlucken müssen. Der späte Start, das Einfrieren des Mindestlohnniveaus bis 2018 und eine Mindestlohnkommission mit alternierendem Vorsitz waren kein gewerkschaftliches Wunschkonzert. Der ausgehandelte politische Kompromiss wurde aber von Verdi, IG Metall & Co mitgetragen.
Schluss mit lustig!
Jetzt aber ist Schluss mit lustig. Der gesetzliche Mindestlohn muss für alle in- und ausländischen Beschäftigten und Arbeitgeber, in allen Regionen und Branchen sowie für alle Arbeitsverhältnisse gelten. Ausnahmen von der Regel darf es nur für Auszubildende, Pflichtpraktikanten und ehrenamtlich Tätige gelten.
In den nächsten Monaten liegt es vor allem an den Sozialdemokraten dafür zu sorgen, dass aus dem Mindestlohn keine Mogelpackung wird. Die politische Glaubwürdigkeit des roten Koalitionspartners steht und fällt mit der Umsetzung eines allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns. An gesellschaftlicher Unterstützung mangelt es nicht. Was am Ende zählt ist der politische Wille.
Dierk Hirschel ist seit 2011 Ver.di-Bereichsleiter Wirtschaftspolitik
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