Krise und Erneuerung der Sozialdemokratie

Gastbeitrag Der SPD fehlen Verbindungen zu unteren Arbeitnehmermilieus, gesellschaftspolitische Debatten und eine Erzählung. Doch jetzt regt sich etwas, schreibt Dierk Hierschel
Der Rücktritt von Andrea Nahles im Juni 2019 war der elfte Führungswechsel im Willy-Brandt-Haus nach Gerhard Schröder. Einen solchen Umgang mit Spitzenpersonal toppt nur noch der Hamburger SV
Der Rücktritt von Andrea Nahles im Juni 2019 war der elfte Führungswechsel im Willy-Brandt-Haus nach Gerhard Schröder. Einen solchen Umgang mit Spitzenpersonal toppt nur noch der Hamburger SV

Foto: John MacDougall/AFP/Getty Images

Der Coup war erfolgreich. Nachdem der SPD-Parteivorstand Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten gekürt hatte, verbesserten sich sofort die Umfragewerte. Das ist kein Zufall, denn Olaf kann Krise. In der Finanzmarktkrise 2007 verhinderte Arbeitsminister Scholz durch den flächendeckenden Einsatz von Kurzarbeit Massenarbeitslosigkeit. Während der Pandemie schnürte Finanzminister Scholz ein milliardenschweres Konjunkturpaket und sorgte damit für eine schnelle wirtschaftliche Erholung. In Corona-Zeiten wurde aus dem obersten Kassenwart der mit Abstand beliebteste Sozialdemokrat der Republik.

Jetzt herrscht Aufbruchsstimmung in der ältesten Partei Deutschlands. Das ist gut so. Denn die SPD wird noch gebraucht. Einen Regierungs- und Politikwechsel gibt es im nächsten Jahr nur mit einer starken Sozialdemokratie.

Bis die neue Zeit mit der SPD zieht, wird es aber noch etwas dauern. Denn die Ursachen der sozialdemokratischen Krise sind noch immer wirkungsmächtig. Ob ein roter Spitzenkandidat Olaf Scholz die SPD als Partei der Arbeit, des Sozialstaats, des ökologischen Umbaus und des Friedens erfolgreich in die Bundestagswahlen 2021 führen kann, wird nicht zuletzt davon abhängen, wie Kandidat und Partei mit diesen Herausforderungen umgehen.

Die Partei der Arbeit schafft sich ab

Die Sozialdemokratie liegt auf der Intensivstation. In den letzten 20 Jahren verlor die SPD mehr als 10 Millionen Wähler und fast die Hälfte ihrer Mitglieder. Das rote Spitzenpersonal und die programmatischen Vorräte wurden weitgehend aufgezehrt. Der Rücktritt von Andrea Nahles im Juni 2019 war der elfte Führungswechsel im Willy-Brandt-Haus nach Gerhard Schröder. Einen solchen Umgang mit Spitzenpersonal toppt nur noch der Hamburger SV.

Die SPD hat in den letzten zwei Jahrzehnten ihre Seele verkauft. Sie ist heute nicht mehr die natürliche Anwältin der abhängig Beschäftigten und sozial Benachteiligten. Die überwiegende Mehrheit der Facharbeiter, einfachen Angestellten und Geringqualifizierten wählt nicht mehr rot. Die CDU ist heute bei Arbeitern beliebter als die alte rote Arbeiterpartei und die braune AfD fährt auf der Überholspur. Darüber hinaus verprellte die SPD mit ihrer Umwelt- und Außenpolitik auch progressive bürgerliche Milieus. Die Zustimmung der Erben Wilhelm Liebknechts zu internationalen Kriegs- und Militäreinsätzen sowie ihr abwartendes Handeln in der Klimakrise führten dazu, dass auch viele Wähler aus der linksliberalen Oberschicht und aus modernen Arbeitnehmermilieus der SPD den Rücken kehrten.

Die Krise der Sozialdemokratie wurzelt maßgeblich in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik der Schröder-Regierung. Die politische Entwertung und Entgrenzung menschlicher Arbeit hinterließ tiefe Spuren im kollektiven Gedächtnis sozialdemokratischer Arbeitnehmermilieus. Die politische Förderung schlecht entlohnter und unsicherer Arbeit, Hartz IV und die Rentenkürzungen verletzten das Gerechtigkeitsempfinden vieler ehemaliger Stammwähler. Der große Sozialpolitiker Ottmar Schreiner klagte über eine Entsozialdemokratisierung der SPD.

Die soziale Spaltung, welche die Agenda-Politik verursachte, wiegt schwer. Sie rechtfertigt sich auch nicht durch ihre vermeintlich positiven ökonomischen Wirkungen. Der angebliche Beschäftigungsboom der letzten 15 Jahre sprengte nie den Rahmen einer gewöhnlichen Konjunkturerholung. Die Jobrekorde waren primär darauf zurückzuführen, dass vorhandene Arbeit zu prekären Bedingungen umverteilt wurde und das Ausland mehr deutsche Waren kaufte.
Die Agenda-Politik provozierte die Abspaltung eines überwiegend gewerkschaftlich orientierten Teils der Partei. Die Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit (WASG), die später in der Linkspartei aufging, war nach den Grünen die zweite relevante Abspaltung von der Sozialdemokratie in den letzten 40 Jahren. Der gewerkschaftlich orientierte SPD-Parteiflügel erholte sich von diesem Schlag nicht mehr.

Der politische Irrweg der Agenda 2010 wurde anschließend nie klar und eindeutig korrigiert. Lange Zeit war kein SPD-Chef der Nach-Schröder-Ära bereit, die Agenda-Politik wirklich abzuräumen, sich für die gemachten Fehler öffentlich zu entschuldigen und einen grundlegenden Kurswechsel einzuleiten.

Weder die erfolgreiche sozialdemokratische Anti-Krisenpolitik 2008, noch die inhaltliche Neuaufstellung 2013, noch die soziale Handschrift der letzten großen Koalitionen – Mindestlohn, Rente mit 63, Bekämpfung des Missbrauches von Leiharbeit und Werksverträgen, etc. – konnten das durch die Agenda-Politik verlorene Vertrauen zurückgewinnen. Kein Wunder! Zerstörtes Vertrauen aufzubauen braucht Zeit, Geduld, Stetigkeit und unbedingte Verlässlichkeit.

Tschüss Volkspartei

Die SPD entstand in den 1860er-Jahren als Partei der Arbeit. Ihre ideologischen und politischen Führer kamen wie Friedrich Engels, Karl Marx und Ferdinand Lassalle aus dem Bürgertum, oder waren wie August Bebel und Friedrich Ebert Handwerker. Ihre Mitgliedschaft und Wählerschaft stammte aus den unteren und mittleren Arbeitermilieus. Im Kaiserreich und der Weimarer Republik war die SPD die stärkste politische Kraft der Arbeiterbewegung, die mit zahlreichen Vereinen, Verbänden, Klubs und eigenen Medien die Lebenswelt der arbeitenden Bevölkerung prägte und durch sie geprägt wurde. Die Nazis zerstörten die wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Strukturen der Arbeiterbewegung und somit auch die solidarischen Ressourcen der Arbeitermilieus.

Nach dem Zweiten Weltkrieg konnten diese Strukturen nur teilweise wiederaufgebaut werden. Dennoch war die SPD in den industriellen Zentren der Bonner Republik sehr gut verwurzelt. Auch nach dem Godesberger Abschied von der Arbeiterpartei waren Bochum, Dortmund, Hamburg, Hannover und Nürnberg rote Städte. In ihren Hochzeiten schmiedete die linke Volkspartei SPD ein Bündnis zwischen linksliberalem, aufgeklärtem Bürgertum und traditionellen Arbeitnehmermilieus.

In den 1970er-Jahren schrumpften die alten Industrien. Die alte Klassengesellschaft wurde vielfältiger und unübersichtlicher. Die mittleren Arbeitnehmermilieus profitierten von den sozialdemokratischen Bildungsreformen und fuhren mit dem Fahrstuhl nach oben. Fortan wählten immer mehr Angestellte, Beamte und Selbständige SPD und immer weniger Arbeiter. Dieser Trend verschärfte sich in den 2000er Jahren. Im Jahr 2016 war nur noch jeder sechste potenzielle SPD-Wähler ein Arbeiter. Um die Jahrtausendwende war es noch fast jeder Zweite.

Auch die Sozialstruktur der SPD veränderte sich. Die Sozialdemokratie wurde zu einer Partei der höheren Angestellten und Beamten. Zwei von fünf Genossen sind heute Angestellte des öffentlichen Dienstes oder Beamte. Lediglich 16 Prozent sind Arbeiter. Die 420.000 Mitglieder repräsentieren nicht die moderne Arbeitswelt. Es fehlen Frauen, Hochqualifizierte, prekäre und junge Arbeitnehmer. Darüber hinaus verlor die Sozialdemokratie ihre alte soziale Basis der Facharbeiter, einfachen Angestellten und Geringqualifizierten.

Die roten Ehrenamtlichen und Funktionäre rekrutierten sich aus Aufsteigergruppen. Ihre Kerngruppe sind Lehrer, Dezernenten und Referatsleiter. Der klassische Lebens- und Arbeitsweg des sozialdemokratischen Mandatsträgers führt von der Schulbank über den Hörsaal ins Abgeordnetenbüro und dann in den Bundestag oder ins Ministerium. Die Verbindung zur Lebenswelt der unteren und mittleren Arbeitnehmermilieus ist gekappt. Die Parteiführung kennt die Arbeitswelt nur noch aus Betriebsbesichtigungen und Betriebsrätekonferenzen. Das ist der zentrale Unterschied zu den Funktionären der alten SPD, die als gelernte Drucker, Metall- und Werftarbeiter, den Arbeitsalltag ihrer Stammwähler noch kannten.

Die traditionell engen Bindungen zwischen der Partei der Arbeit und der organisierten Arbeit lockerten sich. Die 1973 gegründete Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) wurde 1998 kaltgestellt und verlor in Partei, Betrieben und Gewerkschaften an Einfluss. Drei von fünf Genossen sind heute kein Gewerkschaftsmitglied. Ein historischer Tiefpunkt. Gewerkschaftsmitglieder wählen nicht mehr automatisch SPD. Bei den letzten Bundestagswahlen stimmte nicht einmal jeder dritte Gewerkschafter für die SPD. Im Jahr 1998 waren es noch 56 Prozent gewesen.

Diese fortschreitende Entfremdung zwischen Parteiapparat, Mitgliedschaft, Arbeitnehmermilieus und organisierter Arbeitnehmerschaft ging solange gut, solange die SPD noch eine klar erkennbare arbeitnehmerorientierte Politik verfolgte. Zwar fremdelten der Bergmann und Schlosser bereits damals schon mit den Rotwein trinkenden Lafontaines und Engholms dieser Republik, aber ihre zentralen politischen Botschaften wurden gern gehört. Mit der Agenda-Politik war es auch damit vorbei. Heute fehlt der Sozialdemokratie die soziale und kulturelle Erfahrung sowie die politische Haltung um diese Milieus zu repräsentieren. Die gesellschaftliche Verankerung der Genossen ist dramatisch erodiert und in vielen Regionen überhaupt nicht mehr vorhanden. 90 Prozent der schrumpfenden Ortsvereine unterhalten keine regelmäßigen Beziehungen zu Gewerkschaften, Umwelt- und Sozialverbänden sowie Mietervereinen.

Entpolitisierung

Die Partei Kautskys, Hilferdings und Brandts führte drei Jahrzehnte lang keine großen gesellschaftspolitischen Debatten mehr. Eine sozialdemokratische Erzählung existiert nicht mehr. Folglich wundert es nicht, dass die SPD in den Auseinandersetzungen über Finanzmarkkrise, Ungleichheit, Klimawandel oder Frieden nicht mehr punkten konnte. Der letzte Sozialdemokrat, dessen Thesen öffentlich breit diskutiert wurden, war Thilo Sarrazin mit seinem rassistischen Pamphlet Deutschland schafft sich ab. Ein Armutszeugnis!

In den 1990er-Jahren stellte die Partei, die aus Arbeiterbildungsvereinen entstanden ist, ihre allgemeine politische Bildungsarbeit weitgehend ein. Der Kollaps der realsozialistischen Staaten führte auch in der Sozialdemokratie zu einem Utopieverlust. Neumitglieder und angehende Funktionäre wurden mit politischer Ökonomie, Gesellschaftsanalyse, sozialdemokratischen Grundwerten, sozialistischer Theorie und der eigenen Parteigeschichte nicht mehr belästigt.

Erneuerung der Sozialdemokratie

Nachdem Andrea Nahles im Frühsommer 2019 das oberste Parteiamt niedergelegt hatte, suchte die SPD zum wiederholten Mal eine neue Führung. Die Basis war in Aufruhr, weswegen die Mitglieder ihre künftigen Chefs diesmal selbst auswählen sollten. Dafür organisierte das Willy-Brandt-Haus eine große Casting-Show mit acht Teams und 17 Kandidaten. Norbert-Walter Borjans und Saskia Esken gewannen diesen Marathon überraschend gegen das favorisierte Duo Olaf Scholz und Clara Geywitz.

Im Dezember 2019 bestätigte ein Parteitag das Ergebnis des Mitgliederentscheids. Die Wahl Walter-Borjans und Eskens war zunächst ein Votum für einen Aufbruch von links. Der ehemalige NRW-Finanzminister und die baden-württembergische Bundestagsabgeordnete waren die ersten Vorsitzenden, welche die Agenda-Politik öffentlich kritisierten und für den Niedergang der Partei verantwortlich machten. Der Juso-Vorsitzende Kevin Kühnert, dessen Jugendverband ihre Kandidatur tatkräftig unterstützte, wurde zu einem ihrer Stellvertreter gewählt. Die Delegierten entschieden auf dem Parteitag auch über die Zukunft der GroKo. Walter-Borjans und Esken forderten vor ihrer Wahl, den Koalitionsvertrag nachzuverhandeln. Bei Investitionen, Mindestlohn und Klimaschutz sollten substanzielle Verbesserungen erzielt werden. Die GroKo-Anhänger drängten jedoch die designierten Vorsitzenden dazu, keine roten Linien zu ziehen. Folglich konnte die Große Koalition weitermachen. Programmatisch rückte die Partei nach links. Die Genossen forderten mehr Investitionen in Infrastruktur und Klimaschutz, verabschiedeten sich von schwarzer Null und Schuldenbremse und beschlossen eine Vermögenssteuer sowie ein Sozialstaatskonzept, das Hartz IV überwinden will.

Seit ihrer Wahl steht das rote Führungsduo vor der Herausforderung die Partei inhaltlich und personell neu aufzustellen sowie gesellschaftlich besser zu verankern. Dafür sollten die neuen Vorsitzenden eine Politik für gute Arbeit, soziale Sicherheit, ökologischen Umbau und Frieden glaubwürdig vertreten und gut kommunizieren. Tatsächlich konzentrierten sie sich wiederholt auf diese strategisch zentralen und die sozialdemokratische Wählerschaft verbindenden Themen. Luft nach oben gibt es aber noch.

Die Erneuerung ist kein Selbstläufer. In den vergangenen Jahrzehnten regierten die roten Ministerien, die SPD-Bundestagsfraktion und die Landesverbände NRW, Niedersachsen und Rheinland-Pfalz sehr stark in die Partei hinein. Letztere muss aber zukünftig wieder als unabhängiger Akteur mit eigenen inhaltlichen Impulsen auftreten. Zur Wahrheit gehört aber auch: Walter-Borjans, Esken und Kühnert haben aktuell nur einen sehr kleinen Handlungsspielraum. Wenn sie die Partei grundlegend erneuern wollen, müssen sie die Parteigliederungen und Arbeitsgemeinschaften aktivieren und den Austausch mit Gewerkschaften, Verbänden, Initiativen und sozialen Bewegungen organisieren. In Corona-Zeiten ist das sehr schwierig. Zudem ist die neue Spitze darauf angewiesen, dass maßgebliche Landesbezirke, Bezirke und Unterbezirke ihren Kurs tatkräftig unterstützen und die alten Machtzentren sich kooperativ verhalten.

Programmatische Neuaufstellung

Die SPD kann sich erfolgreich erneuern, wenn sie wieder als linke Volkspartei klar erkennbar wird. Dafür muss sie das Rad nicht neu erfinden. Die sozialdemokratischen Grundwerte Freiheit, Gleichheit und Solidarität sind ein verlässlicher Kompass. Das Hamburger Programm ist ein gutes Grundsatzprogramm, das aktualisiert, aber nicht neu geschrieben werden muss. Darüber hinaus sind viele Bausteine fortschrittlicher Reformpolitik – Arbeitsversicherung, Kindergrundsicherung, Pflegevollversicherung, Bürgerversicherung, Vermögenssteuer, Sozialstaatskonzept, etc. – bereits vorhanden.

In der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik muss die SPD dafür streiten, dass die Verhandlungs- und Durchsetzungsmacht der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaften gestärkt wird. Dafür muss das Tarifsystem politisch gestärkt, der Mindestlohn auf 12 Euro angehoben, prekäre Beschäftigung zurückgedrängt, soziale Berufe aufgewertet und Hartz IV überwunden werden. In wichtigen Teilbereichen – Minijobs, Leiharbeit, Rentenniveau, Sanktionen, Qualifikationsschutz, etc. – gibt es da noch Korrekturbedarf. Darüber hinaus muss die SPD fortschrittliche Antworten auf den Wandel der Arbeitswelt – Arbeit der Zukunft – durch Digitalisierung, neue Geschlechterrollen, demographischen Wandel und Migration geben. Hier geht es um die Aufwertung von Dienstleistungsarbeit, Arbeitszeitsouveränität, Qualifizierung und Humanisierung der Arbeit.
In der Umweltpolitik fällt die SPD hinter ihre Konzepte der 1980er-Jahre zurück. Die Verbindung von Arbeit und Umwelt war einmal ein sozialdemokratisches Alleinstellungsmerkmal. Mit dem ökologischen Umbau der Industriegesellschaft gab es eine sozialdemokratische Fortschrittserzählung. Heute sucht man einen sozialdemokratischen Green New Deal oder eine sozialdemokratische Transformationsstrategie vergebens. Hier muss nachgebessert werden.

Großen inhaltlichen Nachholbedarf hat die SPD auch in der Finanz- und Wirtschaftspolitik. Der Sozialdemokratie fehlt ein grundlegendes Verständnis für gesamtwirtschaftliche Zusammenhänge. Die konjunktur- und wachstumspolitische Bedeutung staatlichen Handelns wird immer noch unterschätzt. Eine ausgeprägte Schuldenphobie verhindert, dass vorhandene finanzpolitische Spielräume genutzt werden. Kurzum: Die SPD braucht mehr Keynes und weniger Erhard.
Darüber hinaus muss die Verteilungsfrage offensiver gestellt werden. Es fehlt ein sozialdemokratisches Konzept, dass Primär- und Sekundärverteilung in den Blick nimmt. Erst ein Mix aus Maßnahmen zur Stärkung gewerkschaftlicher Durchsetzungsfähigkeit und eine umverteilende Steuerpolitik kann die Einkommens- und Vermögenschere wieder schließen.

Für diese Politikfelder sollten, in enger Zusammenarbeit mit kritischer Wissenschaft, Umwelt- und Sozialverbänden, sozialen Bewegungen sowie Gewerkschaften, entsprechende Konzepte parteiöffentlich diskutiert und ausgearbeitet werden. Wenn am Ende eine überzeugende sozialdemokratische Erzählung steht, hinter der sich die gesamte Partei versammeln kann, dann wäre dies ein wichtiger Beitrag zur inhaltlichen Erneuerung.

Gleichzeitig sollte die SPD mit Grünen und Linkspartei sowie außerparlamentarischen Initiativen und Bewegungen in einen Dialog über die Ziele und Instrumente einer sozial-ökologischen Reformpolitik treten. Der überwiegende Teil der sozialdemokratischen Programmatik lässt sich nur in einem Linksbündnis verwirklichen. Dieses muss aber von langer Hand vorbereitet werden.

Die besten Inhalte und Wahlprogramme helfen aber nicht weiter, wenn sie von den Wählermilieus, für die sie gemacht wurden, ignoriert werden. Dabei geht es wohlgemerkt nicht um Marketing und Kommunikation. Die SPD hat ein schweres Vertrauens- und Entfremdungsproblem.

Gesellschaftliche Verankerung wiederherstellen

Die Sozialdemokratie muss wieder Zugang zu den traditionellen unteren und mittleren Arbeitnehmermilieus bekommen, die sich aus Ärger, Frust und Enttäuschung von der Partei abgewandt haben. Die meisten Parteigliederungen können diese Vermittlung nicht leisten. Prekär Beschäftigte, Arbeitslose, Facharbeiter sowie Betriebs- und Personalräte sind in den Ortsvereinen eine aussterbende Spezies. Ex-Parteichef Sigmar Gabriel forderte schon 2009 seine Genossen auf, raus ins Leben zu gehen, da wo es laut ist, da wo es brodelt, da wo es manchmal riecht, gelegentlich auch stinkt. So richtig Gabriels Erkenntnis war, dass die SPD den Kontakt zur Arbeits- und Lebenswelt der unteren und mittleren Milieus verloren hatte, so folgenlos war sein Appell.

Die Partei muss sich durch inhaltliche, organisatorische und personelle Angebote stärker für Arbeitnehmer, Betriebsräte und Gewerkschafter öffnen. Da immer weniger Menschen am Wohnort erreicht werden können, müssen Arbeitsplatz und Arbeitsort wieder zu Anknüpfungspunkten sozialdemokratischer Politik werden. Eine stärkere Verankerung in den Arbeitnehmermilieus muss sich auch in der Auswahl der Amts- und Mandatsträger widerspiegeln.

Ferner sollte die Partei mit einer konsequenten umwelt- und friedenspolitischen Haltung wieder progressive bürgerliche Milieus und moderne Arbeitnehmermilieus ansprechen. Das gilt auch für die politisch aktive junge Generation. Zwar sind die Jusos mit ihrem Aushängeschild Kevin Kühnert sehr umtriebig und innerparteilich einflussreich, in Wahlergebnissen und gesellschaftlicher Verankerung schlägt sich das jedoch nicht nieder. Die umweltbewusste Jugendbewegung (FFF) geht fast vollkommen an der SPD vorbei. Auszubildende und junge Arbeitnehmer machen um die SPD einen großen Bogen. Hier bedarf es neben einer inhaltlichen Neuaufstellung eines intensiven Dialogs mit FFF, den Umweltverbänden sowie den Jugend- und Auszubildendenvertretungen.

Darüber hinaus muss die sozialdemokratische Bildungsarbeit wiederbelebt werden. Sozialdemokratische Geschichte, Grundwerte und Programmatik sind weiten Teilen der Parteimitgliedschaft völlig unbekannt. Diese Grundlagen müssen wieder systematisch vermittelt werden. So kann Orientierung und Haltung in Grundsatzfragen sozialdemokratischer Politik gefördert werden.

Dierk Hierschel ist seit 2010 Chefökonom der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (Ver.di) und seit 2012 Mitglied der SPD-Grundwertekommission. 2019 kandidierte er mit Hilde Mattheis für den Parteivorsitz. Gerade hat er das Buch Das Gift der Ungleichheit. Wie wir die Gesellschaft vor einem sozial und ökologisch zerstörerischen Kapitalismus schützen können im Verlag J. H. W. Dietz veröffentlicht.

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