Vor dem großen Urnengang sorgt die Wirtschaft für gute Stimmung. Die Unternehmen geben wieder mehr Geld aus. Mehr Jobs, eine starke Industrie und sprudelnde Steuereinnahmen lassen die Bürger optimistisch in die Zukunft blicken. So viel gute Laune steckt an. Davon profitiert auch die schwarz-gelbe Regierung. Jeder zweite Deutsche ist mit der Arbeit von Merkel, Rösler und Seehofer zufrieden.
Tatsächlich ist der erste Eindruck der schwarz-gelben Wirtschaftsbilanz positiv. Nach der großen Finanzmarktkrise gab es zwei fette Jahre. Die deutsche Wirtschaft wuchs 2010 und 2011 um mehr als drei Prozent pro Jahr. Dieses kräftige Wachstum schuf neue Arbeitsplätze. Heute gibt es so viele Jobs wie noch nie. Fast 42 Millionen Personen sind jetzt erwerbstätig. Ein neuer Rekord! Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 20 Jahren nicht mehr. Mehr Wachstum und Arbeit lassen die Steuereinnahmen sprudeln. In zwei Jahren will der oberste Kassenwart nicht mehr auf Pump leben. Gleichzeitig verleiht die Eurokrise der deutschen Wirtschaft zusätzliche Strahlkraft. Deutschland ist der letzte Gesunde im Euro-Lazarett. Unsere Nachbarn beneiden uns um das deutsche Jobwunder.
Doch der Schein trügt. Das zeigt eine ordentliche Bilanzprüfung. Die offiziellen Arbeitsmarktzahlen verzerren die Realität. Ein großer Teil des angeblichen Jobwunders resultiert aus der reinen Umverteilung vorhandener Arbeit. Wenn Firmen Vollzeitstellen in Teilzeit- oder Minijobs zerlegen, freuen sich die Nürnberger Statistiker. Die Zahl der Erwerbstätigen steigt. Seit der Jahrtausendwende strichen die Unternehmen und Verwaltungen rund 1,5 Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Gleichzeitig schufen sie über drei Millionen geringfügige Jobs und Teilzeitstellen. Folglich wird heute zwischen Hamburg und München nicht mehr gearbeitet als vor 13 Jahren. Die Zahl der bezahlten Arbeitsstunden – das so genannte Arbeitsvolumen – ist nicht gestiegen.
Der jüngste Beschäftigungszuwachs resultiert aber nicht nur aus umverteilter Arbeit. In der schweren Krise verhinderten Kurzarbeit, Arbeitszeitkonten und milliardenschwere Konjunkturpakete eine Explosion der Arbeitslosigkeit. Im anschließenden Aufschwung schufen die Firmen zusätzliche Stellen. Dass kräftiges Wachstum neue Jobs entstehen lässt, ist nicht ungewöhnlich. Das vermeintliche Jobwunder sprengte aber nie den Rahmen einer normalen Konjunkturerholung. Im letzten Aufschwung stieg die Beschäftigung – unter Beachtung der ungleichen Dauer der Aufschwünge – nicht stärker als in früheren Erholungsphasen.
Nürnberger Schönmalerei
Die amtlichen Arbeitslosenzahlen sind ebenfalls mit großer Vorsicht zu genießen. Dem Nürnberger Zahlenwerk folgend sind „nur“ knapp drei Millionen Menschen ohne Arbeit. Doch das ist nur die halbe Wahrheit. Ein-Euro-Jobber, Erwerbslose über 58 Jahre, oder Arbeitslose in Weiterbildungsmaßnahmen werden in der Statistik nicht mitgerechnet. Zudem gibt es über zwei Millionen Teilzeitbeschäftigte, die gerne länger arbeiten würden. Und bei der Langzeitarbeitslosigkeit ist Deutschland unrühmlicher Spitzenreiter in Europa. Fast jeder zweite Erwerbslose sucht seit mehr als einem Jahr erfolglos Arbeit. In Wirklichkeit fehlen fast sechs Millionen Vollzeitarbeitsplätze. Arbeit für Alle ist weit und breit nicht in Sicht. Von Beschäftigungswunder keine Spur.
Doch damit nicht genug: Auch auf den guten Konjunkturverlauf hat die schwarz-gelbe Regierung kein Copyright. Die starke wirtschaftliche Entwicklung nach der Krise verdanken wir konsumfreudigen Chinesen und US-Amerikanern.
Dafür verantwortet die Merkel Regierung mehr Hungerlöhne als je zuvor. Fast jeder vierte Beschäftigte arbeitet heute für weniger als neun Euro die Stunde. 1,4 Millionen Deutsche schuften für einen Armutslohn von unter fünf Euro. Mehr Niedriglohn gibt es nur in den USA. Gleichzeitig wird die Arbeitswelt immer unsicherer. Jeder Dritte hat heute ein prekäres Beschäftigungsverhältnis. Rund 7,5 Millionen Beschäftigte haben einen Mini-Job, davon ein Drittel als Hauptverdienstquelle. Die Zahl der Leiharbeiter kletterte auf fast eine Million. Zudem gibt es 2,3 Millionen Solo-Selbstständige. Jede zweite Neueinstellung ist inzwischen befristet. Werksverträge sowie unbezahlte Praktika werden bei den Unternehmen immer beliebter. Unsichere Jobs und Tarifflucht schwächen die gewerkschaftliche Verhandlungsmacht. Das was IG Metall, Ver.di & Co aushandeln, kommt bei nur noch drei von fünf Beschäftigten an.
Prekäre Arbeit baut auch keine Brücke in reguläre Arbeit. Millionen Armutsjobber stecken in der Niedriglohnfalle. Unter den vollzeitbeschäftigten Geringverdienern bekommt nur jeder Achte einen Job, wo der Lohn zum Leben reicht. Noch dürftiger sind die Aufstiegschancen für Leiharbeiter. Nur sieben Prozent der Leiharbeitskräfte schaffen den langfristigen Übergang in ein reguläres Beschäftigungsverhältnis – von einem „Klebeeffekt“ keine Spur. Und auch Geringqualifizierten hilft mehr billige und unsichere Arbeit nicht bei der Jobsuche.
Die Spaltung des Arbeitsmarkts ist nicht nur sozial ungerecht, sondern auch ökonomisch schädlich. Die gesamtwirtschaftliche Lohnschwäche bremste die Binnen- und befeuerte die Exportwirtschaft. Der Binnenmarkt prägt aber die wirtschaftliche Entwicklung der Republik. Einzelhandel und Handwerk litten unter mangelnder Kaufkraft. Das Ausland trug mehr zum Wachstum bei als das Inland. Ohne Erfolg! Vor der Finanzmarktkrise wuchsen Wirtschaft und Beschäftigung langsamer als im Rest des Euroclubs. Noch heute investieren die Unternehmen weniger als zur Jahrtausendwende. Darüber hinaus ging das exportabhängige Wachstum zu Lasten unserer Nachbarn. Sie konnten immer weniger Güter auf den ausgetrockneten deutschen Märkten absetzen. So entstanden die Ungleichgewichte in den Handels- und Kapitalströmen. Während die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse stiegen, drohten die Krisenländer im Schuldenmeer zu ertrinken.
Das Märchen vom Jobwunder
Am Ende bleibt von Merkels toller Wirtschaftsbilanz nichts mehr übrig. Was bleibt, ist eine krisenanfällige exportabhängige Wirtschaft sowie Millionen schlechte und unsichere Jobs. Die öffentliche Wahrnehmung ist jedoch eine andere. Wirtschaftsloobyisten und Medienvertreter erzählen tagtäglich das Märchen vom teutonischen Jobwunder. Mit großer Wirkung! Inzwischen glaubt der deutsche Michel selbst, dass Angela Merkel eine gute Wirtschaftspolitik macht.
Die neoliberale Deutungsmacht endet erst dort, wo Ideologie auf Lebenswirklichkeit trifft. Trotz Aufschwung bleibt die soziale Frage aktuell. Die große soziale Ungleichheit bedroht auch die Mitte der Gesellschaft. Deswegen wollen vier von fünf Deutschen noch immer einen gesetzlichen Mindestlohn. Forderungen nach gleichem Lohn für gleiche Arbeit und mehr sicheren Jobs haben breiten gesellschaftlichen Rückhalt.
Die soziale Frage gefährdet jedoch noch nicht Merkels Wiederwahl. Obwohl die Kanzlerin eine umfassende Neuordnung des Arbeitsmarktes ablehnt, schwimmt sie auf einer Sympathiewelle. Merkel verkauft den gespaltenen Arbeitsmarkt als notwendigen Preis für Vollbeschäftigung. Getreu dem Motto: Sozial ist was Arbeit schafft.
Sozialdemokraten und Grüne konnten dem bisher nichts entgegen setzen. Statt die vermeintlichen wirtschaftspolitischen Erfolge von Merkel, Rösler & Co zu entzaubern, klagen beide Oppositionsparteien darüber, dass die Kanzlerin erntet, was Schröder pflanzte. Da die rot-grünen „Arbeitsmarktreformen“ noch immer als wirtschaftliche Erfolgsgeschichte verklärt werden, führt das schwere Erbe der Agenda 2010 zu oppositionellen Beißhemmungen. Folglich beschränkt sich die rot-grüne Regierungskritik auf die schmerzlichen sozialen Folgen entfesselter Arbeitsmärkte. So wird Merkels vermeidliche Wirtschaftskompetenz nicht in Frage gestellt.
Das wäre aber dringend geboten. Nur wenn auch die wirtschaftspolitische Inkompetenz der schwarz-gelben Regierung für Alle sichtbar wird, gibt es eine realistische Chance auf einen Politikwechsel. Erst dann überzeugt die Alternative einer sozial-ökologischen Reformpolitik, die wirtschaftliche Vernunft und soziale Verantwortung verbindet. Eine Politik, die endlich eine neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt schafft, hohe Einkommen und Vermögen stärker belastet sowie kräftig in Bildung, Gesundheit, Umwelt und Infrastruktur investiert.
Noch ist es nicht zu spät. Der große Urnengang wird erst auf der Zielgeraden entschieden. Jetzt muss endlich Schluss sein mit Märchenstunde. Durch Aufklärung und inhaltliche Zuspitzung ist ein Politikwechsel noch möglich.
Dierk Hirschel ist seit 2011 Ver.di-Bereichsleiter Wirtschaftspolitik
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