Schwach fühlte er sich und "unendlich müde". Seine Lymphknoten waren angeschwollen, erst am Hals, später in den Leisten. Er schleppte sich ins Hospital, ließ einen Bluttest machen - das Ergebnis war niederschmetternd: HIV/Positiv. Aus Scham und Angst wollte Nguyen Minh Truong mit niemandem über sein Schicksal reden, seine Eltern erfuhren nichts. Er nahm keine Medikamente und tat so, als sei er gesund. Schließlich wurde der 24-Jährige so schwach, dass er nicht mehr zur Arbeit auf einen der Fleischmärkte im Zentrum von Ho Chi Minh City gehen konnte. Erst als ein Freund ihm riet, sich endlich behandeln zu lassen, kam er ins Health Center des IV. Distrikts, nur einen Steinwurf entfernt von den Quai-Anlagen am Saigon-Fluss und eines der ärmeren Viertel der südvietnamesischen Metropole.
Das war vor einigen Monaten - an den Lymphknoten ist Truong inzwischen operiert worden. Seitdem behandelt ihn die Ärztin Vu Nguyen Thanh, die im Health Center die Aids-Patienten betreut. "Die Tabletten haben meine Schmerzen gelindert", sagt Truong müde, der ausgemergelt in seinem Bett liegt. Die Ärztin ist zuversichtlich. "Bei einer regelmäßigen Einnahme der Medikamente und gesunder Lebensweise kannst du noch lange leben."
Truong hatte sich mit einer offenbar infizierten Nadel Heroin gespritzt. Das Rauschgift kommt häufig aus dem benachbarten Laos, dessen schwache und hilflose Regierung kaum zu einer Kontrolle des Drogenhandels fähig ist. Ohne dass es dafür große Hindernisse gäbe, gelangt der Stoff in das sieben Millionen Einwohner zählende Ho Chi Minh City. 50.000 Dong kostet ein Schuss, umgerechnet keine drei Euro. Trotz des extrem niedrigen Lohnniveaus im Süden Vietnams ein Preis, der viele zum Probieren verführt. Der verdeckte Rauschgift-Transfer hat seinen Anteil daran, dass die Neuinfektionen allein in den letzten zwei Jahren beträchtlich gestiegen sind.
Prostituierte in einer Tanzhalle
Ähnlich wie in Osteuropa wurde auch in Indochina das Thema Aids lange Zeit sträflich ignoriert. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums in Hanoi sind in Vietnam mehr als 215.000 Menschen mit dem HI-Virus infiziert, das heißt, es gibt schon heute in jeder 75. Familie einen Aids-Kranken, ohne Zweifel eine Tragödie für das Land. Kathleen Cravero, Vizedirektorin der UN-Organisation UNAIDS, sieht eine der Ursachen für die rasant steigende Zahl von Infektionen nicht zuletzt bei Vietnamesinnen in "versteckter Gewalt innerhalb der Familien, in mangelnden Rechten der Frauen und fehlenden Ausbildungschancen für Mädchen".
Nguyen Thi Ngyuet ist eine der infizierten Frauen und lebt seit etlichen Monaten im Hospiz Trung Tam Mai Hoa in der Gemeinde Nu Huan Duc im Chu-Chi-Distrikt, zwei Fahrtstunden von Ho Chi Minh City entfernt. Schwestern vom katholischen Orden Vinh Son pflegen hier die Aids-Kranken. Eine bedrückende Stille liegt über dem Gelände der Anlage, die 2001 entstanden ist und seither über 200 Patienten aufgenommen hat. Die Ordensschwestern, die sich für diese spezielle Pflege ausbilden ließen, leisten hier einen de facto unentgeltlichen Hilfsdienst, denn in Vietnam existiert bislang keine Krankenversicherung, die Aids-Patienten eine adäquate Behandlung in Hospitälern oder Pflegeheimen ermöglichen würde.
Auch Pham Thi Mong Tuyens gehört zu den vielen jungen Frauen in Vietnam, die aus sozialen Verhältnissen kommen, in denen das Wissen über die Gefahren von Aids überwiegend fehlt. Die 18-Jährige ist zum ersten Mal im Health Center am Hafen von Ho Chi Minh City, sie möchte ihr Blut testen lassen, weiß aber seit zwei Jahren schon, dass sie von Aids nicht verschont blieb. "Ich habe mit 14 zum ersten Mal Drogen genommen", erzählt Pham mit leiser Stimme im Warteraum. "Um mir Stoff besorgen zu können, fing ich an, als Prostituierte in einer Tanzhalle zu arbeiten". Zwar habe sie das inzwischen aufgegeben, doch vom Drogenfieber sei sie nie wieder erlöst worden. Pham lebt zusammen mit ihrem zwölfjährigen Bruder zu Hause bei der Mutter, die verzweifelt versucht, sich und ihre beiden Kinder über die Runden zu bringen - und ihrer Tochter genügend Rauschgift zu besorgen.
Fälle wie dieser sind alles andere als eine Ausnahme für das staatliche Gesundheits- und Aidsberatungszentrum im IV. Distrikt, das im Hinterhof eines dicht bebauten Stadtbezirks untergekommen ist. Unterstützt werden die Ärzte und Sozialarbeiter vom HEKS, dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen in der Schweiz, das sein Engagement vorrangig auf Prävention konzentriert - wie es auch der Streetworker Tran Bgoc Bich handhabt, der seit 1997 in Ho Chi Minh City im Drogen- und Prostituierten-Milieu unterwegs ist, um aufzuklären und immer wieder aufzuklären. Unablässig fährt er mit seinem Moped durch das Labyrinth der Straßen an der Hai Ba Trúng und dem Lê Lôi Boulevard, sucht das direkte Gespräch mit Dirnen, Strichern und Drogenabhängigen, wirbt bei jeder Gelegenheit für Safer Sex, für den Gebrauch von Kondomen. Bich versucht, in das kaum entwirrbare Geflecht der Abhängigkeiten und Beziehungen eines sozialen Biotops einzudringen, das sich total abschottet - er warnt schonungslos, und er fordert Akzeptanz gegenüber den Kranken, besonders in den Familien, unter Freunden und Nachbarn.
"Café de Confiance"
Vielfach fehlt in Vietnam eine tolerante, verständnisvolle Aufgeschlossenheit gegenüber Aids. Nirgendwo wird das spürbarer als in der wöchentlichen Gesprächsrunde mit HIV-Patienten im Health Center des IV. Distrikts. "Mich macht es wütend, wie die Familie oder auch dessen Freunde einen Kranken nicht nur ignorieren, sondern sich völlig abwenden", zürnt einer der Betroffenen. "Mancher stirbt, ohne dass sich die nächsten Angehörigen um ihn kümmern". Betretenes Schweigen.
Wer bei diesen Treffen genau zuhört, der erfährt einiges über Verschlossenheit und Scham, die Themen wie Sexualität, eheliche Treue und käufliche Liebe in Vietnam ummanteln können. Um die Prostituierten auch wirklich zu erreichen, hat Tran Bgoc Bich deshalb vor einigen Jahren als Sozialarbeiter das Café de Confiance gegründet, um den Prostituierten ein Refugium zu geben, in dem sie sich aufgehoben fühlen. Als Ort von Begegnung und Aufklärung ist das Café einmalig im Süden Vietnams und könnte ein Beispiel dafür sein, wie durch steten sozialen Kontakt den Opfern der Immunschwäche geholfen werden kann - und wie man zugleich präventiv handelt. Unter den Prostituierten ist das wichtiger denn je, birgt doch ein expandierender (Sex-)Tourismus nach Vietnam zusätzliche Gefahren.
Fast fünf Millionen Neuinfektionen
Welt-Aids-Tag 2005
Die Zahlen sind erneut mehr als erschreckend - weltweit haben sich seit Anfang 2005 fast fünf Millionen Menschen mit dem HI-Virus neu angesteckt, teilte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) zum Welt-Aids-Tag am 1. Dezember mit. 3,2 Millionen Menschen infizierten sich allein im afrikanischen Kernland südlich der Sahara (65.000 waren es in Nordamerika/Westeuropa, 200.000 in Lateinamerika). Drei Millionen Menschen starben in den zurückliegenden zwölf Monaten an Aids oder an Krankheiten, die von der Immunschwäche begünstigt werden - 570.000 davon waren nicht älter als 14 Jahre. Besonders alarmiert sind WHO und UNAIDS über die Verbreitung der Epidemie in Osteuropa sowie in Zentral- und Ostasien. Allein in Polen, Russland und der Ukraine nahm die Zahl der Aids-Kranken seit dem 1. Januar 2003 um ein Viertel auf 1,6 Millionen Menschen zu - in Ostasien gab es im gleichen Zeitraum 870.000 Neuansteckungen. Am meisten betroffen waren Vietnam und China. Die WHO geht davon aus, dass in Asien mehr denn je der Drogenkonsum mit unsauberen Spritzen Hauptkatalysator für die Ausbreitung der Immunschwäche ist.
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