Volker Rühe, bis Herbst 1998 Bundesverteidigungsminister, hielt wenig von demokratischen Tugenden wie Transparenz oder Diskussionsbereitschaft. Auch ließ er sich, so seinerzeit die Klagen aus dem militärischen Apparat, nicht immer oder nicht immer ausreichend beraten und raten. Wissenschaftliche Expertisen und Studien gar, im übrigen auch und gerade aus dem eigenen Beritt, waren ihm wohl eher ein Gräuel. Gesprächsbedarf - so schien es - hatte er kaum. Diskurse zu ihm nicht genehmen Themen, so wird erzählt, verweigerte er schlicht. Innere Führung schließlich, das Qualitäts- und Markenzeichen der demokratischen Streitkräfte der Bundesrepublik, ließ er für sich nicht gelten.
Wer hätte vor diesem Hintergrund die Bildung einer
dung einer neuen rotgrünen Bundesregierung im Jahre 1998 nicht als Chance begriffen, auch in Verteidigungs- und Sicherheitsfragen endlich wieder zu einer der Demokratie und Verfassung gemäßen politischen Kultur zurückzukehren. Mehr noch: Zehn Jahre nach Ende des Ost-West-Konfliktes und des Zusammenbruchs von Sowjetunion und Warschauer Pakt schien beim Regierungswechsel sogar eine Jahrhundertreform möglich.Wie es anfangs aussah, war sich der neue Verteidigungsminister seiner Chancen und Möglichkeiten zur Neugestaltung von Sicherheitspolitik und Bundeswehr nicht nur abstrakt bewusst. Vielmehr packte er sie auch ganz praktisch und mit Nachdruck an: zum Beispiel mit der Ankündigung, im Frühjahr 1999 eine Wehrstrukturkommission einzurichten. Die sollte sich aus Experten aller gesellschaftlichen Bereiche zusammensetzen und völlig unbeeinflusst und optionsoffen an einem Reformkonzept der Bundeswehr arbeiten. Anders als Rühe schien sich der neue Verteidigungsminister Scharping also von vornherein und grundsätzlich raten und beraten zu lassen. Doch weit gefehlt! Die Arbeit der Wehrstrukturkommission wurde in den vergangenen Monaten zeitlich stark beschnitten. Ihre ursprüngliche Optionsoffenheit hatte Scharping mit Äußerungen wie "Ich möchte nicht Minister einer Berufsarmee sein" ohne Not mehrfach konterkariert. Die Funktion der Kommission insgesamt und ihres Vorsitzenden, des Altbundespräsidenten von Weizsäcker, im besonderen wurde durch den Auftrag eines Parallelgutachten, besser ausgedrückt: eines Gegengutachtens entwertet, ja desavouiert.Damit aber nicht genug: Weder der "Weizsäcker-Bericht" mit seinem Plädoyer für eine Bundeswehr mit 240.000 Soldaten noch das zeitgleiche "Kirchbach-Papier" mit seiner Forderung nach 290.000 Soldaten wurden bislang ausreichend diskutiert - nicht im Bundestag, schon gar nicht in der Gesellschaft. Gleichwohl legte Rudolf Scharping nur wenige Tage später ein eigenes Konzept vor. Die Broschüre mit dem Titel "Die Bundeswehr sicher ins 21. Jahrhundert. Eckpfeiler für eine Erneuerung von Grund auf" sieht Streitkräfte mit einem Umfang von 277.000 Dienstposten vor sowie die Fortführung der Allgemeinen Wehrpflicht, wenngleich reduziert von bislang zehn auf künftig neun Monate.Ist es sachlich vernünftig und politisch wünschenswert, ein so weitreichendes Reformwerk wie die Umgestaltung der Bundeswehr ohne erschöpfende Diskussion durchzuziehen? Wer eigentlich hat das Scharpingsche "Eckpfeiler-Papier" verfasst? Mit wem wurde es beraten? Warum sind künftig 277.000 Soldaten, wie Scharping es will, nicht aber 290.000 oder 240.00 Soldaten erforderlich, wie von Weizsäcker oder von Kirchbach vorschlagen? Was hat Scharping, was Weizsäcker oder Kirchbach nicht haben?Warum genügen nicht gar 200.000 oder noch weniger Soldaten, wie es etwa Bündnis 90/Die Grünen oder auch Stimmen aus der Wissenschaft fordern? Noch nie war Deutschland so wenig bedroht, noch nie war die NATO so unangefochten stark wie heute! Gleichwohl geben allein die 19 Staaten der NATO für Militär und Rüstung jährlich fast 500 Milliarden US Dollar aus - mit steigender Tendenz. Warum wird die Jahrhundertchance nach dem Ende des Ost-West-Konfliktes nicht für eine umfassende Abrüstungs- und Rüstungskontrollinitiative genutzt? Wenigstens zur Aussetzung der Wehrpflicht: Ist es nicht Unrecht, Menschen - zumal, wenn sie jung und im Aufbruch sind - ohne wehrpolitische Notwendigkeit ihrer Grund- und Freiheitsrechte zu berauben, sie aus ihrer Berufs- und Lebenswelt herauszureißen, sie in ihren Hoffnungen und Zukunftsperspektiven einzuschränken, möglicherweise sogar ihren Lebensweg per Zwangsdienst grundlegend zu verändern?Warum wird nicht auf die parallele Aufstellung nationaler Armeen in Europa verzichtet. Verlangt eine gemeinsame europäische Außen- und Sicherheitspolitik nicht ohnehin das organisatorische und militärische Strukturgerüst eines eurokollektiven Sicherheitssystems, das modern, leistungsstark und gleichwohl schlank ist, und das neben der zumindest teilweisen Supranationalität der Streitkräfte und der Bildung gemischt-nationaler Kontingente eine verstärkte arbeitsteilige Spezialisierung und synergetische Konzentration der Länder auf jeweils bestimmte Teilstreitkräfte statt wie bisher auf gleichermaßen drei legt?Warum werden diese und eine Reihe weiterer grundsätzlicher Fragen unter einer rot-grünen Regierung nicht richtig und schon gar nicht erschöpfend ausdiskutiert? Warum insbesondere wird - entgegen aller Vorankündigungen und auch Erwartungen - der Souverän, die Bevölkerung, auch nach dem Regierungswechsel in die Entscheidungsfindung durch Information und breite Diskussion nicht wirklich einbezogen? Könnte es sein, dass gerade der mit Vorschusslorbeeren so überaus freudig bedachte Bundesverteidigungsminister Rudolf Scharping in Wahrheit des Volkes Meinung scheut - wie der Teufel das Weihwasser?