Von Hof hatte ich bisher immer nur gehört. Vor allem die beiden Worte „ganz toll“, dabei konnte keiner der Erzähler sie so recht aufschlüsseln. Ich wusste von der Festivalgründung (vor nun 24 Malen) durch die Gründer des neuen deutschen Films, wusste von dem alljährlichen Fußballspiel – diesmal übrigens unterlagen die Gäste haushoch mit 1:7 – und ahnte (nach Wenders „Im Lauf der Zeit“), dass diese Stadt eine Inkarnation von Zonenrandgebietstristesse darstellen muss. Die Internationalen Filmtage, jedes Mal im Oktober, befriedigen die Sucht nach einem belebenden Kontrastmittel. Von den kleinen Festivals will es das größte sein.
Die Auswahl zeigte unüberschaubar viele Filme (Katalog: 258 Seiten), am Ende zu viele, und, gemessen an der etwas großspurigen Präambel („Keine Grenzen, keine Systemunterschiede werden künftig Verleiher und Regisseure daran hindern, ihre Filme in Hof zu präsentieren“), vielleicht doch nicht in den aktuellsten Proportionen. Irgendwie war in Hof (nur ein Bürgermeister kann HOF als Home of Films dechiffrieren) immer noch die Welt zu Ende, sieht man einmal ab von einem Film aus Leningrad und einem aus Jugoslawien. Kein DDR-Film war präsent, keiner aus der Tschechoslowakei, aus Polen. Aus dem Beitrittsgebiet waren traditionell allein die beiden bisherigen Chefredakteure des „Filmspiegels“ angereist, und ich mengte mich eher durch aufdringliche Selbsteinladung in die Hofer Family, um eine Legende, die mir vom Hörensagen ein Begriff war, zu erleben. Zwar pochte Festivalleiter Heinz Badewitz auf die Strenge seines Reglements, aber: zum einen hat er es selbst nicht eingehalten, zum anderen gibt es nun mal mehr westdeutsche Festivals als ostdeutsche Filme, da hatten letztere der Solidarität, sprich: Popularisierung, durchaus noch einmal bedurft, bevor Babelsberg endgültig zur Stadt Atlantis wird. Hof hat es zweifellos schwer, haben sich doch so gut wie alle anderen deutschen Festivals, Saarbrücken, Hamburg, München und nun auch noch Köln, terminlich davor geschoben – und bald beginnt ein neues Jahr, geht alles von vorne los, auch das schon ungesunde Dealen und Buhlen um Festival-Vorreservierungen – da wägt jeder von neuem ab, wo er sich am besten ins Gespräch bringt. Als ginge es nicht darum, die Art als solche zu retten und alle Festivals als vereinsamte Multiplikatoren, ja Mausoleen für den nicht automatisch marktfähigen Film zum HOME OF FILM zu machen.
So, zum Beispiel, hätte Jan Schütte seinen neuen Film besser hier gestartet als in Venedig, wo „Winckelmanns Reisen“ einfach schon sprachlich (und weil nicht spektakulär genug) untergehen musste. In Hof konnte so mancher Kritiker, der Schütte in Venedig eins ‚mitgegeben’ hatte, seine Haltung wenn nicht korrigieren, so zumindest differenzieren: Das erfolg-‚ freud- und letztlich lieblose Leben eines Shampoo-Vertreters im norddeutschen flachen Land. Aus dem Gros der durch tausend Töpfe geförderten bundesdeutschen Filme ragt Schüttes letzte Arbeit schon durch fein versteckten Witz und formale Strenge heraus, obgleich ihm bei der Schilderung von Banalitäten eines Außenseiterlebens bestimmte Ungenauigkeiten im Erzählen unterlaufen, besonders wenn der Film durch die plötzliche Hinzufügung des Kindes zum ‚roadmovie’ verkommt und der Hintergrund (DDR und Ex-Frau), offenbar von den Ereignissen überrollt, zu ungenau gerät.
Haarsträubend präsentes Kino dagegen zeigt Christoph Schlingensiefs „Deutsches Kettensägenmassaker. Die erste Stunde der Wiedervereinigung“. Gewöhnlich sollte man aus jeder Schweinerei wenigstens ein Stück Schinken herausschneiden, Schlingensief macht aus seiner konkreten 1990er-Befindlichkeit ‚60 skrupellose Minuten zur deutschen Einheit’ und suggeriert mit der schrillen Poesie von Gummischürzen (Alfred Edel, Dietrich Kuhlbrodt etc.) und wannenweise Filmblut in der Grauzone zwischen Beisturzgebiet und DM-Mutterland, dass es nun, im nach Schlingensief unvereinbaren Deutschland, buchstäblich um die Wurst gehe, hier: um die Verwurstung (ein authentischer Fall aus dem Ruhrgebiet) von DDRlern am denkwürdigen 3. des vergangenen Monats. Der Hass auf die sich um die Fleischtöpfe drängelnden Ostler führt (als Fabel) geradewegs zu deren Verwurstung und weiteren Auffüllung jener Töpfe. Schlingensief entwickelt eine im doppelten Sinne blutreiche Horrorvision mit dem artistisch ungezwungenen Spaß studentischer Gags, frei von der Notwendigkeit, ästhetische und ideologische Inhalte automatisch in die tradierten Kategorien von Bildkomposition, Montage und Narration zu verfrachten. So entfaltet er mit der Besessenheit eines cineastischen Wüstlings filmisches Temperament, das dem eines Fleischwolfs entlehnt scheint. Ja, er schießt mit der Handkamera ungehemmt durch die Gegend wie mit einer Motorsäge und schafft so ein pulsierendes, filmisch dichtes Medium, wie in deutschen Filmen nur selten zu erleben. Gezielt eingesetzt, etwa im Ostberliner „Babylon“, könnte der Film zum Szenemagneten werden, das Kino zu einem gesamtdeutschen Pilgerort. Die Lifehaftigkeit der Bilder wird zudem forciert durch eine Ouvertüre: Fernsehbilder vom „deutschesten Tag in der Geschichte“: Rede, Fahne, Hymne. Der Film sieht sich an, wie letzte Woche gedreht, und: als sei Schlingensief das lange ausgetüfftelte Pseudonym dieses verrückten Filmmachers von Mülheim an der Ruhr.
„Sie kamen als Fremde und wurden zu Wurst“ steht auf seinem Plakat geschrieben; dies hätte auch das Motto von Rolf Lyssys „Leo Sonnyboy“ sein können: Braver Familienvater bittet seinen besten Freund, seine Freundin, ein Gogogirl aus Thailand, zu heiraten, weil die Aufenthaltsgenehmigung abläuft. Der Freund willigt ein, doch aus dem Gefallen wird plötzlich Ernst. Lyssys Film ist ein frustrierender Beleg dafür, wie man wunde Punkte (Ausländerhass, Fremdenpolizei u.a.) mit einer Unverbindlichkeit verwursten kann, die einem auf den Magen schlägt. Und hier zerbröselt dann auch der gespreizte Anspruch von Hof. Einzige Entschädigung: Mathias Gnädingcr in der Rolle des ahnungslosen Trottels mit dem happy-end-Abo. Zwei Kurzfilme sprachen sich zu recht herum: Niko Brüchers „Hochzeitsgäste“, ein durch und durch ‚polnischer Film’, gedreht an der Filmhochschule Lodz. Das ist ein Reiz, aber auch sein Problem: Brücher schwelgt in wunderbaren Bildern aus ungelackter polnischer Realität. Die dramaturgische Krücke dafür: eine Westfotografin entsteigt knipsend ihrem Jetta und verguckt sich in eine Hochzeitsgesellschaft, ganz nebenbei eine Kiste Apfelsinen abstellend. Dort zieht sie den Zuschauer in einige schöne, gut erzählte (stumme) Episoden hinein und verschwindet selbst spurlos aus dem Blickfeld.
In Brüchers Biofilmografie fehlt kaum ein großer Name des neuen deutschen Films, gelernt und assistiert hat er so gut wie alles und bei jedem. Nun steht der Beweis eines wirklich eigenen Films noch aus, na, und so preiswert wie im apfelsinenhungrigen Polen dürfte der auch nicht mehr zu machen sein. Sehr viel vitaler aus sich heraus und ähnlich unabhängig von Fördertöpfen gemacht war „Because“, die minutiöse 34-Minuten-Etüde von Tom Tykwer (Jahrgang 1965), dem Leiter des „Moviemento“ in Kreuzberg. Ein Film, der aus einer sonst denkbar unfilmischen Not, nämlich dem Zwang der Wiederholung von Gesten, Gängen, Handlungen und Ritualen in Partnerbeziehungen, eine Tugend macht: das erzählträchtige Spiel aus Möglichkeit und Wirklichkeit - unter Ausnutzung so urfilmischer Mittel wie Rückblende und Montagekopplung. „Because“ – ein Film auch über scheinbar vertraute Kausalitäten, vermittelt in geistreichen Überraschungen, wie sie so vielen schwermütigen Langmetragen abgehen.
Überhaupt schienen die Zeichen des aktuellen deutschen Films in Hof, zumindest was seine Erzählintentionen anlangt‚ weniger auf Dramatik und Apokalypse zu stehen als auf dem Versuch, der (wennschon) Apokalypse ein Stück Charme abzuringen. Das ist schon deshalb nicht zu verachten, weil der deutsche Film seine Zuschauer faktisch längst aus den Kinos vergrault hat, sein Marktanteil sinkt geradezu stündlich (letzten Monat betrug er 1,5%). Wenn die 24. Internationalen Filmtage eine Börse waren, dann lautete deren Tendenz davon gänzlich unbeirrt: unter der Hofer Fangemeinde scheint die Welt noch heil. Ähnlich unerschrocken mochte Egon Krenz noch Ende Oktober ’89 seiner Zukunft entgegengesehen haben.
Dieser Text erschien am 9. November 1990 in der ersten Ausgabe des Freitag
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.