Allen Befürchtungen (oder Erwartungen), Geschichte auf Jubelabschnitte von zehn Jahren und weniger zu verkürzen und sein Publikum büchsenweise mit perforierten "Waaahnsinn!!!"-Rufen, verdutzen Grenzpolizistengesichtern und Victory-gespreizten Fingern zu fluten, trat das Leipziger DOK-Festival mit zwei Strategien entgegen: Es zeigte zur Eröffnung einen Kompilationsfilm über den letzten deutschen Kaiser (Majestät brauchen Sonne von Peter Schamoni) und fasste die Retrospektive "Wendebilder" ungleich weiter als etwa die Rednerliste zur Feierstunde im Reichstag oder erst recht den Streit darum. Auch wurde es keine Montagsdemo im Kino, die den Groll der Looser aus der einstigen Heldenstadt bündeln sollte.
Festivalleiter Fred Gehler stellte einmal mehr seinen sto
mal mehr seinen stoischen Nonkonformismus unter Beweis und programmierte eine Zusammenschau denkbar kontrastreicher Bilder vom brüchigen Zustand dieser Welt, die ein unverdient geringes Presseecho (selbst in der eigenen Stadt) bekam. Frei von Eitelkeiten und Verpflichtungen, wie sie viele andere Festi vals zunehmend lähmen, dafür ganz dem Prinzip Forum verschrieben, wurden hier an fünf Tagen rund 400 Dokumentar- und Animationsfilme gezeigt, die mit ihrer Eklektik des Authentischen von der Kundenfreundlichkeit elektronischer Bilder und der Reduzierung von Leben auf Lifestyle und Hochglanz weit entfernt waren. Damit bezeugt das Festival auch Entwicklungsprozesse, die andere Veranstaltungen dieser Art noch immer nicht zur Kenntnis nehmen wollen - etwa den Wandel des ÂDatenträgers für den Dokumentarfilm. Er führt zu einer eigentümlichen Wiederbelebung des Begriffs Autorenfilm, indem die Hardware digitale Kamera es erlaubt, dass Regisseur und Kameramann in Personalunion auftreten. Private Annäherungen werden möglich, filmische Tagebucheintragungen in der Familie oder der nächsten Nachbarschaft lassen sich fixieren, die Dialogfetzen und Alltagsbeobachtungen zusammenfügen. Nicht immer aber wird im Persönlichen auch Allgemeines sichtbar und den Abgebildeten durch forcierte Aufmerksamkeit schon die Scheu vor der Kamera genommen. Oft haben die Menschen einfach nichts zu sagen, oder ihre Abbilder zu ihren Texten lassen jede Mitteilung vermissen. Nur in glücklichen Ausnahmefällen schafft die Minimierung der Technik eine Intimität, wie sie mit einem herkömmlichen Filmstab nicht zu schaffen ist.Der Schweizer Jean-Stepháne Bron hat zwei Digitalkameras (keine versteckten!) in Fahrschulautos geschraubt, selbst im Kofferraum gelegen, am Monitor die Technik ferngesteuert und quasi unter der Hand 5 Geschichten aus der Fahrschule, einen witzigen und zugleich melancholischen Film aus dem Leben von denkbar abhängigen Paaren (meist Inländern und Ausländern auf engstem Raum) unter teils sehr unöffentlichen Umständen, gedreht und obendrein erfolgreich eine Ausschreibung zum Thema "multikulturelle Schweiz" gewonnen.Auch Barbara Meetselar war allein mit ihrer Kamera unterwegs, um in Frozen Margaritas einer schier unglaublichen Geschichte nachzugehen, die man ihr nur im Dokumentarfilm abnimmt. Eine Frau aus Greifswald, der irgendwann mal die "Decke DDR" auf den Kopf fiel, ist nach Pasadena an eine Art College gegangen und hat sich dort in einen drogenabhängigen Schwarzen verliebt. Wodurch die Hermetik ziemlich satter Postmoderne-Boheme allmählich kaputtgeht und dank Hausverwaltung sogar beendet wird. Was dann beginnt, ist die Domestizierung eines verloren geglaubten Menschen von der Straße. Ein Film, der nur auf den ersten Blick sehr privat scheint.Der Pole Pawel Lozinski musste nicht erst bis nach Kalifornien fahren, um Welt einzufangen; in So eine Geschichte bleibt er im Hinterhof seiner unmittelbaren Nachbarschaft, ebenfalls allein mit einer Kamera, zwei Männern auf den Fersen, und aus der Banalität des Alltags wird plötzlich die von Einsamkeit und Tod. Eigentlich ein Spielfilm von einer knappen Stunde, aber nicht gespielt, nur: das Leben spielt sich selbst (Goldene Taube).Trotzdem ist Video auch der Krebs des Kinos, und die technische Emanzipation des Datenträgers für Film führt gleichsam zu seiner Verunreinigung, zu einer Verrohung ästhetischer Sitten: ähnlich wie seit der Einführung der Textverarbeitung am Computer aus jedem Schmierzettel rasch ein Artikel, am Ende gar ein Roman wird, erlaubt es die digitale Bildbearbeitung und erst recht die Montage, so ziemlich jeden Video- und Bildschnipsel zu einem sich als Film gebärdenden Flickenteppich zusammenzukleben. Und die einstigen Abgötter des großen Dokumentarfilms, die heute wie Kinder verspielt mit seifenschachtelgroßen Kameras hantieren, machen es den Jungen vor. Zum Beispiel Chris Marker, der in Rot ist die blaue Luft (Retro "Wendebilder") einfach zuviel "Fernsehsmog" auf 35 mm aufbläst, mit einer Stimme bündelt, was aber fürs Kino nicht mehr reicht.Wie sich jemand mit den Mitteln des großen aufwendigen Dokumentarfilmkinos zum Akteur von Zeitgeschichte generiert, zeigt der Film Julias Wahn von Hannes Schönemann: anhand der Liebe zu einer Dänin, die als Kommunistin in die DDR geschickt wurde und dann doch eine Spionin gewesen sein soll, belegt er die Ahnung von einer verkehrten Welt zur Zeit der Ost-West-Teilung Europas, am Ende aber einmal mehr den tragisch-selbstverliebten Irrglauben, wegen subversiver Filmbilder (die hier auch noch zitiert werden), im Osten ins Gefängnis gekommen zu sein. Ein Film über Konspiration und Misstrauen - leider mit dem unguten Beigeschmack investigativer Konspiration aus der Kniekehle der yellow press: Telefonate mit Befragten, die nicht wissen können, dass ihre Rede, ihr Schweigen in einen Film einfließt, dienen zur Bebilderung von weißen Dampfern und immer wieder weißen Dampfern auf der Ostsee. Aus Julias Wahn wird Schönemanns Wahn, der zuviel offenlässt und dadurch ihn sogar unfreiwillig selbst belastet. Schade. Dieser Stoff hätte einen unbefangenen Autor gut vertragen, oder aber der Regisseur hätte ihn, wie ein Kollege riet, besser für sich behalten.Aus China kam ein Film, der auch hätte heißen können "Wollt Ihr das totale Englisch?" - Crazy English zeigt die beinahe zwangsweise und zugleich zwanghafte Einführung der englischen Sprache in China durch so etwas wie Sektenprediger, die ganze Stadien und Säle füllen und aggressiv ihr Publikum in den Rausch versetzen, mit Englisch den Einlassschein in das Oberdeck der Zivilisation (Amerika) zu erwerben. Nach Abschottung und Kulturrevolution nun das ganze, nicht minder krankhafte Gegenteil.Leipzig brauchte auch die Wiederbegegnung mit Joris Ivens, der hier seit Prag '68 und seinem Mao-Trip über Nacht vom Götzen zur Unperson mutiert war - vielmehr mit jener Frau, die nicht seine Witwe genannt werden will: Marceline Loridan-Ivens, vorgestellt in einem sympathischen 30-Minuten-Porträt von Daniela Schulz (Windsbraut), dem allerdings genau dieses Symptom des Videogeschwürs anhaftete. Gezeigt wurde auch ein Film, eher eine kultische Ode, Mein Kind (DDR 1953), bei der Joris Ivens die "Künstlerische Gesamtleitung" innehatte (via Telefon aus Paris und erst nach der Abnahme, laut Überlieferung der eigentlichen Macher), der im Auftrag der Internationalen Demokratischen Frauenföderation den weiblichen Teil der Menschheit beschwor, nie wieder Soldaten großzuziehen (zur Stimme Helene Weigels). Dabei macht die Distanz jener entrückten Bilder zu den heutigen, beinahe alltäglich-analytischen, zumeist religiös unverstellten nicht einmal ein ganzes, nur das letzte halbe Jahrhundert - auch Leipzigs - aus, und doch wirken sie schon wie von einem anderen Stern. Wendebilder eben, weitgefasst.
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