Im ziemlich billig nachgebauten Salon eines Ozeandampfers (Titanic lässt grüßen) mischen sich französische und russische Sprachfetzen mit der Akustik von Pappe und Meeresrauschen via Play back. Spannung soll aufkommen, will aber nicht recht. Hunderte Russen, Ukrainer fahren »nach Hause«. 1945: der Krieg, den ihr Heimatland gewonnen hat, ist aus. Doch sie kennen es nur aus der Erinnerung oder gar den Überlieferungen der Eltern, betreten haben sie es noch nie: die Reise geht von Marseille nach Odessa. Sie können einfach nicht länger im Exil leben...
Mit dieser immer wieder postulierten, aber durch nichts an biographischem Hintergrund oder psychologischem Porträt unterfütterten Behauptung startet eine Filmhandlung, die ohne wirkliche Drama
hne wirkliche Dramatik auskommen muss, weil jede Aktion, jedes Geheimnis einer menschlichen Regung allein mit Gerede aufgeschlüsselt wird. Der eine kann nicht ohne Russland sein, der andere nicht in ihm. Glauben soll man beides gleichermaßen. Doch wohin die Reise geht, wird prompt in den ersten fünf Minuten klar: ein Mann stolpert bei der Ankunft im Hafen aus Reih' und Glied und wird gleich mal erschossen - das Zielland ist nämlich ein einziger großer GULAG, nur der Hauptheld Alexej will das nicht erkennen, er will dienen, und zwar traditionell russisch als Arzt. Allein seine Frau Marie, eine waschechte Französin, die auch gleich Probleme mit der Hygiene bekommt, versteht das nicht und dreht allmählich durch, verliebt sich in Sascha, den Untermieter jenes einen Zimmers, das den »Repatrianten« in einer Mehrparteienwohnung zugewiesen wurde. Sascha hat bei Eintreffen der neuen Nachbarn seine Großmutter an Büttel des NKWD verloren, sie sprach nämlich französisch und war überhaupt zu sehr »Intelligenzija« für das weitere Leben im Sowjetreich. Er selbst ist ein passionierter Schwimmer, schwimmt aber zunächst noch nicht in Maries Tränen (Sandrine Bonnaire), sondern im Fluss, denn er träumt von internationalen Wettkämpfen, um in den Westen »abzuhauen«. 1946: Während Marie kein gutes Haar an der neuen Heimat lässt, macht Alexej allmählich Karriere, reibt sich ermüdend progressiv für die Arbeitshygiene von vornehmlich Arbeiterinnen in stickigen Zechen auf und verliebt sich in das ganze Gegenteil von Marie: in die nicht von Heimweh, Ekel und Abscheu zerfressene Olga, die Spitzelin des Treppenaufgangs. Bei einem »kulturellen Abend« mit der berühmten französischen Schauspielerin Gabrielle (Catherine Deneuve) spielt er den Vorzeigefranzosen unter den Kiewer Lokalpromis. Dabei steckt seine Frau Gabrielle ein Fluchthilfeersuchen zu, das erst Jahre später, über Bulgarien und den französischen Botschafter dort, realisiert wird.So geht das alles eine satte Filmlänge; die Frau des Arztes plant und plant die Flucht, dem Schwimmer gelingt sie. Sie kommen jedoch nie zusammen, nur Kanada gewährt ihm Asyl, während der Arzt allein zurückbleibt und sogar zum Klinikchef aufsteigt, allerdings nach der Flucht von Frau und Sohn in die Schneewüste Sachalins verbannt wird - immerhin als Arzt (Stalin ist schon tot), doch erst nach Gorbatschow kann er von dort »zurück« nach Frankreich gehen... Ganz nebenbei erfährt man nichtsahnend in einem Nebensatz, dass hinter der Rückkehr nach Frankreich der fürsorgliche Alexej gesteckt haben soll, der sich auf diese Weise faktisch seiner Familie entledigt hat. Nonverbale Hinweise auf dieses Doppelleben gibt es allerdings nicht, und genauso unverständlich bleibt, warum er nicht selbst das Land verlassen hat.Dieser Film läuft in Deutschland unter seinem scheinbar unverzichtbaren französischen Originaltitel an. »Ost-West« wäre ja wohl auch zu banal und würde leicht auf das simple Strickmuster allzu fertiger Paradigmen hinweisen, nach dem dieses Werk gefertigt wurde. Zehn Jahre nach dem Fall der Mauer, nach allen samtenen und weniger samtenen Revolutionen, scheint nun die Zeit gekommen, alles was wir über den Stalinismus schon immer wissen wollten, ins Entertainment weitschweifiger Leinwandschinken umzumünzen und unters Volk zu bringen. Warum so spät? Weil es vorher erst noch der Wiederherstellung der Infrastruktur in den Ländern am Ort des Geschehens bedurfte, nachdem dort in den seit 1990 plötzlich verwaisten Filmstudios zunächst in marktwirtschaftlichem Übereifer und meist unter dem Kommando der alten Zensoren Damenstrümpfe, Tee zum Trocknen oder anderes Zeugs gelagert wurde. Est-Ouest ist ein Film der Anleihen: er bedient sich aufs Schamloseste der Figur Oleg Menschikows in Nikita Michalkows Die Sonne, die uns täuscht, des Co-Autors Sergej Bodrow (Der Gefangene im Kaukasus) und seines Sohns in der Rolle des Sascha, der Kulissen Kiews und Odessas, der arbeitslosen Filmprofis in den Ateliers ukrainischer und bulgarischer Studios, dutzender bulgarischer Billiglohn-Schauspieler und glaubt am Ende gar, mit dem Flickenteppich von Wahrheit, Kitsch, Politik, Sex einen Coup gelandet zu haben (der zu allem Überdruss auch noch in Hollywood als bester ausländischer Film nominiert war). Sein Regisseur Régis Wargnier scheint überhaupt ein rechter Stringer zu sein (einer, der die Fäden zieht), mit langem Arm am Sunset Boulevard: schon mit seinem ideologisch bizarren Kolonialschinken Indochina machte er das Grundtrauma der Amerikaner (Vietnam) zu einem Oscar und bewies allerhand außercineastisches Geschick.Demnächst läuft in den USA ein ähnliches Kommunismus-Martyrium, Sunshine (»Ein Hauch von Sonnenschein«), von István Szabó an, dessen Trailer gruseligen Kitsch vermuten lässt, aber warten wir's ab. Eines steht jedoch fest: Wenn das alles ist, was vom Leben jenseits des »Eisernen Vorhangs« übrigbleibt und nachfolgenden Generationen weitergegeben wird, dann können sich die, die dort gelebt haben, getrost die Kugel geben. Dabei ist im Grunde keine der Geschichten, der wahren wie der möglichen, erzählt.
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