Etwas scheint passiert zu sein mit der Berlinale in ihrem 49. Jahr: selten war sie, zumindest in den Neunzigern, so glanz- und kraftlos wie in diesem Februar, als es galt, Abschied zu nehmen von einem Stück Berliner Film- und Festivalgeschichte rund um den Zoo-Palast und zugleich Anlauf - vor dem lange herbeigesehnten und nun scheinbar gefürchteten Neuanfang in SONYs und Daimler-Benz' Metropolis am Potsdamer Platz. Zu viel kaum mehr hinterfragte Routine und offensichtliche Materialermüdung der »Maschine Festival« sind da mittlerweile im Spiel, als daß vorstellbar sein könnte, wie beides in einem neuen Gefäß bemäntelt werden soll.
Die Berlinale rühmt sich seit langem mit einem quantitativen Überangebot an Filmen, die in den zehn Tag
n zehn Tagen von niemandem gerecht zu (über)schauen sind - die vielzitierten 800 Stück bedeuten in der Summe mehrere tausend Stunden Zusehzeit. Und glaubt man der alljährlichen Vorrede im Katalog (»Niemals war die Filmauswahl so leidenschaftlich umkämpft und mühsam wie bei diesem Festival«), so könnte eigentlich immer Februar sein.Für US-amerikanische Journalisten - das ging mir in diesem Jahr zum ersten Mal auf - muß der Wettbewerb wie ein merkwürdig provinzielles Spektakel anmuten. Hollywoodfilme, die daheim längst im Kino laufen und sogar für Oscars nominiert sind, werden hier präsentiert als Europa-Premiere oder deutscher Kinostart, flankiert von asiatischen und europäischen Produktionen, die allerdings den Begriff europäischer Film auf das nachhaltigste denunzieren. Kaum anders - als aus diplomatischem Kalkül - ist die Programmierung eines so peinlichen Streifens wie Das Mädchen deiner Träume aus Spanien zu verstehen oder der unvermeidliche, auf den Silbernen Bär abonnierte Bertrand Tavernier oder der fast alljährliche neue/alte Chabrol. Festivalleiter Moritz de Hadeln macht mittlerweile keinen Hehl mehr aus dieser Politik und stellte einmal mehr unter Beweis, daß er zum europäischen Film keine bessere Beziehung zu entwickeln vermag als zur deutschen Sprache. Dafür, wie als Alibi, liefen gleich zwei deutsche Produktionen im Wettbewerb: Aimée und Jaguar, der die zwei politisch-korrektesten Zutaten dieser Tage zu einer spektakulären Mixtur vereint, einer jüdisch-lesbischen Liebesgeschichte aus der NS-Zeit (Silberner Bär für die Darstellerinnen - »pc« ist eben doch die edelste Form der Zensur), und Andreas Dresens Film Nachtgestalten, dessen Idee sich leider in der naheliegenden Bebilderung des Titels erschöpft. Michael Gwisdek, einer seiner Hauptdarsteller (ebenfalls Silberbär), meinte in einem Interview, dieser Film zeige Menschen, die wir alle kennen, aber niemals im Kino zu sehen bekommen. Das genaue Gegenteil davon ist richtig: Nachtgestalten zeigt Geschichten, wie wir sie immer wieder und nur im Kino zu sehen bekommen - von Leuten, die keiner wirklich kennt. Obdachlose, Nachtschwärmer, Punks, ein Berlin-hungriger Bauer aus Meck-Pomm., drogensüchtiges Stundenmädchen, feiner Pinkel im BMW, bald ohne, ein Junge aus Angola und mit ihm die ihn suchenden und suchen helfenden Menschen aus Kreuzberg und Hellersdorf ... Sie alle streunen durch eine Berliner Nacht, die auch noch mit dem Papstbesuch (omnipräsent im Fernsehen, Nonnen in jeder U-Bahn) garniert wird. Ein Karussell von Episoden dreht sich, das zwischendurch jeweils solange angehalten wird, bis die Handlung wieder auf den entsprechenden Strang, das jeweilige Pärchen zurückkommt. Mit einem Hang zur zwanghaften Harmonisierung sozialer Gegensätze fächert Dresen eine Vielzahl von tragikomisch gemeinten Verwechslungen, Gags und letztlich doch Allgemeinplätzen auf. Er kommt dabei, obgleich er nie einen DEFA-Film zu Lebzeiten Babelsbergs dort gedreht hat, dessen Ästhetik (wie schon in Stilles Land) erstaunlich nahe. Nachtgestalten ist aber auch ein Indiz für die Grenzen des Fiktiven in dieser Zeit - der Spielfilm aus dem Deutschland nach der Wiedervereinigung steht wohl noch aus.Exakt derselbe Unterschied zwischen Film und Leben stieß auch andernorts ins Auge: Während kurz nach Bekanntwerden der Verhaftung von PKK-Führer Öcalan am Wittenbergplatz der Ausnahmezustand herrschte, Menschen damit drohten, sich aus dem Fenster des besetzten Griechischen Generalkonsulats zu stürzen oder sich mit Benzin zu übergießen, lief auf der Berlinale ein nur zu gutgemeinter Film, der die Freundschaft zwischen einem Türken und einem Kurden beschreibt, und prompt mit dem Preis der grüngestützten Friedensfilmjury bedacht wurde.Im vergangenen Jahr hatte Moritz de Hadeln eine glücklichere Hand, obwohl er von der angeblich unabhängigen Presse, die den politischen Kreisen Berlins so unmerklich von den Lippen liest, schon zum Abschuß freigegeben war, unverdient wohlgemerkt. In diesem Jahr ist es genau umgekehrt. Verhaltenes Lob für ein weit schwächeres Programm - diese Spiele soll man nun durchschauen.Auch das Internationale Forum des Jungen Films bereitete in seinem mittlerweile 29. Jahr so manche Mühe, nachvollziehbare Auswahlkriterien erkennen zu lassen, und zeigte sich gegen Ermüdungserscheinungen (leider!) nicht gefeit - selten war ein derart starkes Mißverhältnis zwischen Andrang und Programm zu beobachten. Wie definiert man auch fast ein Drittel Jahrhundert hindurch im Angesicht so vieler politischer wie ästhetischer Umbrüche das Etikett »Jung« in Bezug auf Film?! Dauerhaft und immer wieder neu zugleich? Vielleicht verlegte sich das Forum deshalb aufs name dropping. Völlig unverständlich zum Beispiel der Rummel, der da gemacht wurde um Aki Kaurismäkis angeblichen Stummfilm Juha. In unerwartet reißerischer Sprache war vorab im Internet von Mega-Event die Rede (»Wenn die streikenden finnischen Fluglotsen ihr Versprechen halten und die Maschine mit Aki K. und seinem fast 100köpfigen Gefolge an Bord heute abend von Helsinki starten kann, dann steht den Vorbereitungen zur vielleicht aufwendigsten Filmvorführung, die das Forum je erlebt hat nichts mehr im Weg ..., beginnt der Abbau mehrerer Stuhlreihen für das Filmorchester und der Einbau einer 2. Verstärkeranlage usw. usf.«), und mit rüden Sprüchen wie »Besondere Zugangsbedingungen für die Tagespresse« wurde ein künstlicher Andrang erzeugt, der durch nichts gerechtfertigt war und am Ende einen lauen Respekt-Beifall und ratlose Gesichter hinterließ, während Kaurismäki auf der Bühne mit Weinflasche am Mund, Sprüchen und Witzen, die so abgenutzt waren wie sein berühmter Mantel, aufwartete. Frage: »Wann machen Sie Ihren nächsten Film?« - »Nächsten Monat.« - »Und worüber?« - »Weiß ich noch nicht.« Ein Film ohne Dialog ist noch lange kein Stummfilm (eine Folge von Ja und Nein noch keine Filmdiskussion), auch wenn die Rede von Griffith, Keaton und anderen großen Stummfilmern war, auf die sich allseitig hier bestenfalls rhetorisch berufen wurde. Schade, daß dieser Rummel dem schwächsten Film Kaurismäkis galt. Ich befürchte, jedem anderen Einreicher hätte man dieses Stück Film, belichtet wie im 2. Studienjahr und trivial bleibend trotz aller bemühter Brechung, um die Ohren gehauen. Und zurecht. Mit solchen »Events« riskiert das Forum seinen Ruf der Zuverlässigkeit. Viele Leute reisen von weither einmal im Jahr nach Berlin, drängeln sich ins »Delphi«, um sich hier orientierende Weihen zu holen. Sie sollten nicht noch einmal so verkohlt werden. Ähnlich reicht es nicht, wenn ein äußerst schwacher, sogar reaktionär fundamentalistischer Film aus dem Iran läuft - legitimiert allein durch den Hinweis, daß er sieben Jahre lang verboten war. Das Hinüberwachsen alternativen Kinos ins etablierte mit hohler Botschaft oder ganz ohne strahlt am Ende gnadenlos auf den Überbringer derselben zurück.Wie leichtsinnig man noch mehr, sein wunderbares Lebenswerk etwa, ruinieren kann, demonstrierte (ebenfalls im Forum und leider nicht zum ersten Mal) Winfried Junge, der nun einen kaum noch unterbietbaren Tiefpunkt des Perpetuum Mobiles seiner einst so wertvollen Langzeitbeobachtung der Kinder von Golzow vorstellte. In fast schon seniler Weise, bar jeder Idee, filmt Junge als Übervater seiner Helden unablässig in ihren Leben herum, selbst wenn sie es nicht mehr wollen. Jovial, gönnerhaft, herablassend, am Ende gar voyeristisch, redet er ihnen bevormundend jene Antworten ein, die ihm ins Bild, mehr noch in den Ton passen. Denn gedreht wird mittlerweile auf Video, weil Film nicht mehr zu bezahlen sei. Richtiger wohl ist: weil Junge keine bündigen Fragen und Stichworte mehr einfallen.Den vitalen Gegenbeweis dazu lieferte Volker Koepp (ebenfalls im Forum), der auch am liebsten ein Leben lang nach Wittstock fahren würde, aber anders als Junge eines weiß: daß man, immer wenn's am schönsten ist, aufhören muß. Nach Kalte Heimat in Ostpreußen nun - am Schnittpunkt von Bobrowski (über ihn hatte Koepp sich in den sechziger Jahren dem Baltikum genähert) und Celan - eine Reise in die Bukowina nach Czernowitz, wo ihm das wunderbare Paar »Herr Zwilling und Frau Zuckerman«, das sich abend für abend trifft, um sein Deutsch zu pflegen, tieftraurig und kauzig zugleich über den Weg lief. Dies ist das eindringliche Porträt durch Vernichtung und Vertreibung rar gewordenen, dahinscheidenden ostjüdischen Lebens, punktgenau montiert aus wunderbar langen Einstellungen, kräftigen Bildern (Thomas Plenert) und einem phantastischen Ton (Uve Haußig), der ein deutsch-jiddisch-russisch-ukrainisch-rumänisches Sprachgemisch für die Nachwelt sichert. Auf 35 mm!Winfried Junges Aufnahmen nehmen sich dagegen wie Homevideos aus; es ist, als zeige einem der Nachbar immer wieder seine Urlaubsphotos von Menschen und Ereignissen, die einen nichts angehen. Schade. Ein Hauch von sozialistischer Feierstunde zog durchs »Delphi«, Blumen vom Bürgermeister und der unfreiwillig ambivalente Vorschlag, ein Filmmuseum zu eröffnen in Golzow. Genau dahin gehört das Projekt, wenn es sich weiterhin so unbedacht in Kleingeld einwechselt. Aber die allseits geförderte Unerschrockenheit scheint kaum noch zu stoppen: im April, hieß es, wird die nächste »Staffel« fertig, fürs Leipziger DOK-Festival. Junge hatte sogar eine famose Schlachtenbummlerin im Publikum aufgeboten (»Weiter so, immer weiter, unsere Menschen brauchen das!«), und Junge, devot: »Ich vergaß Ihnen vorzustellen: Dr. Regine Hildebrandt, Brandenburgs Arbeitsministerin«, die auf solidarische Kritik unter Berufung auf »Lebensläufe« abwehrend ihre Sirenenstimme in Gang setzte: »Nur keine Filme wie vor 1990!«. Damals war sie nämlich prinzipiell nicht im Kino. Im Fall Junge dürfte ihr da allerdings einiges entgangen sein.Das eigentliche Ereignis kam diesmal mehr von der Seite, fast durch die Hintertür: Wim Wenders machte den neuen Datenträger für Bilder und Töne hof- das heißt Zoo-Palast-fähig. Auf dem digitalen Videoband einer Homevideokamera (brillant übertragen auf Zelluloid) zauberte er einen schlichten Film auf die Leinwand, der unerwartet leicht einherkam. Ohne stirnfaltentiefe Schwermut: Buena Vista Social Club. Der Film zu Ry Cooders Spurensicherung in Sachen Kuba-Jazz. Und ohne einen Pfennig Filmförderung.
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