Janus in uns

Perspektiven Die Polizei filmt, die Demonstranten filmen zurück. Über die Ambivalenz von Überwachungsbildern
Ausgabe 35/2015

In der römischen Mythologie war Janus der Gott mit den zwei Gesichtern, die zugleich nach vorn und nach hinten sehen konnten. Zuständig war Janus für die Türen und Tore, für die Ein- und Ausgänge, für alles, was hinein- und alles, was hinauswollte. Er war ein Wächter. Wer heutzutage ein Smartphone sein Eigen nennt, hält seinen persönlichen Janus in der Hand. Schließlich haben diese Geräte nicht nur eine gut sichtbare, hochauflösende Kamera an ihrer Rück-, sondern auch eine etwas kleinere Linse auf ihrer Vorderseite. Die schaut einen an, während man auf dem Bildschirm das betrachtet, was man gerade filmen will. Will man also andere beobachten, richtet man zugleich ein Auge gegen sich selbst.

Diese Doppelgesichtigkeit darf in der Diskussion um Augenzeugenvideos und den Einsatz von Kameras zur Verteidigung von Grundrechten nicht ignoriert werden. Denn immer häufiger werden Fälle von Polizeigewalt zwar dadurch bekannt, dass die Übergriffe von Passanten aufgezeichnet und über die Medien verbreitet worden sind. Zugleich wird mit dieser Überwachung der Überwacher ein Instrument propagiert, das mit guten Gründen als Gefährdung demokratischer Grundrechte kritisiert werden muss.

Beweissicherungswagen

Die beschämende Serie rassistischer Polizeieinsätze mit Todesfolge, die die USA seit über einem Jahr in Atem hält, ist ein Beleg dafür, dass auch die Staatsgewalt jederzeit damit rechnen muss, gefilmt zu werden: Eric Garner, der von mehreren Beamten am Boden gehalten wird und an einem Würgegriff erstickt. Walter Scott, der vor einem Polizisten davonläuft, der ihm in den Rücken schießt. Sandra Bland, die nach einem Spurwechsel aus dem Auto gezerrt und außerhalb des Bilds zu Boden gedrückt wird. All dies wurde einer großen Öffentlichkeit bekannt, weil eine Kamera zugesehen hat.

Und jede dieser Szenen zeigt, wie naiv die Vorstellung einer bürgernahen Polizei ist. Schließlich hat in jeder Begegnung zwischen Polizei und Bürger der Beamte weitaus mehr und umfassendere Handlungsmacht. Meist, aber eben nicht immer, aus guten rechtsstaatlichen Gründen. Bürgerrechtler wollen dem Ungleichgewicht mit der Kraft der countersurveillance oder Gegenüberwachung beikommen. Die Kamera als dritter Beteiligter dieser Begegnung soll beruhigend oder abschreckend wirken und gegebenenfalls später Beweismaterial liefern. In den USA setzen Aktivisten das Prinzip um, indem sie Polizisten bei ihren Streifengängen in Stadtteilen mit vorwiegend schwarzer Bevölkerung auf Schritt und Tritt folgen. Die Bürgerrechtsorganisation American Civil Liberties Union (ACLU) hat im Mai dieses Jahres die App Mobile Justice CA vorgestellt, die es ermöglichen soll, den Missbrauch von Polizeigewalt nicht nur zu filmen, sondern den Videobeweis sofort auf die ACLU-Server hochzuladen. So bleiben die Aufnahmen auch dann erhalten, wenn das Smartphone beschlagnahmt oder die Videodateien darauf gelöscht werden.

Bei Demonstrationen ist es seit langem üblich, dass sich Demonstrierende und Staatsgewalt gegenseitig durch Kameras beobachten. Beide Seiten wollen das Fehlverhalten der jeweils anderen dokumentieren oder durch Abschreckung verhindern. Neu ist diese Idee nicht. Schon 1912 sollen Frauenrechtlerinnen bei ihren Versammlungen Kameras mitgeführt haben, um mögliche gewalttätige Übergriffe auf Film zu bannen. In den 60er Jahren begann die Polizei, erste Fahrzeuge mit Technik zur Bildaufzeichnung auszurüsten. Um bei Versammlungen die Übersicht zu behalten, wurden Kameras in Hubschraubern eingesetzt. Die Münchner Stadtpolizei stattete einen VW Käfer mit Aufnahme- und Übertragungstechnik aus und montierte eine Kamera ans Ende einer Teleskopstange auf dem Dach des Wagens.

Dietmar Kammerer ist Medienwissenschaftler an der Philipps-Universität Marburg. Seine Dissertation Bilder der Überwachung ist im Suhrkamp-Verlag erschienen (382 S., 16 €)

Heutzutage sind sämtliche Bereitschaftspolizeien mit Beweissicherungs- und Dokumentationskraftwagen ausgestattet, wie sie im Beamtendeutsch heißen. Das sind leistungsfähige Übertragungswagen, die jedem Fernsehsender gut gefallen würden, weil sie über hochauflösende Kameras, Richtmikrofone und Software zur automatisierten Bilderkennung verfügen sollen. Viel genauer lässt es sich nicht sagen, die technischen Details der Hightechvehikel, die ein italienischer Rüstungskonzern herstellt, werden vom Bundesinnenministerium unter Verschluss gehalten.

Zum Einsatz kommen dürfen solche Polizeikameras laut Versammlungsgesetz allerdings nur, sofern „tatsächliche Anhaltspunkte“ vorliegen, dass „erhebliche Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung“ von einer Veranstaltung ausgehen. Nicht immer hält die Polizei sich daran. Das Berliner Verwaltungsgericht hat festgestellt, dass die polizeiliche Aufzeichnung der Anti-Überwachungs-Demonstration „Freiheit statt Angst“ (FSA) im Jahr 2009 illegal war. Tatsächlich ging bei der Veranstaltung die einzige Gefahr von zwei Polizisten aus, die einen Radfahrer misshandelten und ihm ins Gesicht schlugen. Ein Video des Vorfalls, das über das Internet verbreitet wurde, stützte die Version des Betroffenen, gegen den zuvor Anklage wegen Widerstandes gegen die Staatsgewalt erhoben worden war. Das Land Berlin musste dem Opfer schließlich Schmerzensgeld zahlen. Der Vergleich bedeutete aber auch, dass formal keine Schuld der Polizei festgestellt wurde.

Peter Ullrich, Soziologe an der Technischen Universität Berlin, hat Demoteilnehmer daraufhin befragt, wie sie die Beobachtung seitens der Staatsmacht erfahren würden. Das Resultat: Während die Filmerei auf manche tatsächlich abschreckend wirkte, fühlten andere sich dadurch geradezu herausgefordert und zu aggressiverem Verhalten provoziert. Auch hier offenbart Überwachung sich als zweischneidiges Instrument. Sie bewirkt das Gegenteil dessen, was beabsichtigt war.

Namensschildpflicht

Nicht nur Demonstranten, sondern auch Polizisten, sagt Ullrich, erlebten das Gefilmtwerden als Moment der Machtlosigkeit. In Interviews äußerten sie die Befürchtung, ihr Verhalten auf Videos könne falsch gedeutet werden. Der Soziologe sieht eine „strategische Adaption“ beider Seiten am Werk. Die Polizei filmt, die sozialen Bewegungen filmen zurück, die Polizei kontrolliert daraufhin gezielt die Medienteams – und so weiter und so fort. Eine „Spirale von Überwachung und Gegenüberwachung“ entsteht, in der beide Seiten zugleich Strategien des Verbergens der eigenen Strategien entwickeln. Noch gibt es keine bundesweite Pflicht für Polizisten, ein Namensschild zu tragen (Ausnahmen sind Berlin und Brandenburg). Demonstranten hingegen unterliegen einem Vermummungsverbot, manche rüsten sich dagegen mit Regenschirmen aus.

Das Wettrüsten geht weiter. Mittlerweile setzen Demonstranten Drohnen ein, um die Bewegungen der Polizei zu dokumentieren. Andererseits werden mehr Polizisten mit sogenannten Bodycams ausgestattet, Miniaturkameras, die auf der Schulter oder am Helm befestigt werden. In Deutschland war Hessen das erste Bundesland, das (im Jahr 2013) diese Technik einführte, seit Anfang Juli werden nun auch in Rheinland-Pfalz Beamte damit bestückt. Weil die Bestimmungen des Datenschutzes vorschreiben, dass auf jede Aufzeichnung im öffentlichen Raum deutlich hingewiesen wird, sind die Uniformen der Beamten mit dem Schriftzug „Videoaufzeichnung“ gekennzeichnet, und zwar auf der Vorder- sowie auf der Rückseite der Schutzweste. Obwohl in diese Richtung überhaupt nicht gefilmt wird, ist die Kennzeichnungspflicht als Annäherung an das Doppelgesicht des Janus durchaus bemerkenswert.

Man erhofft sich von den Bodycams einen Rückgang gewalttätiger Angriffe auf Polizeikräfte, die durch Abschreckung eingedämmt werden sollen. Ob sich der präventive Effekt einstellt, bleibt allerdings abzuwarten, immerhin haben Studien gezeigt, dass konventionelle Videoüberwachung – feste Kameras an öffentlichen Plätzen – auf Gewalt gegen Personen wenig bis gar keinen mindernden Einfluss hat. Es überrascht daher kaum, dass Polizeigewerkschaften die Technik zwar begrüßen, dabei aber skeptisch bleiben und außerdem davor warnen, die Bodycams heimlich zur Verhaltens-, Arbeits- oder Leistungskontrolle der Beamten einzusetzen. Überwachungstechnik kann eben immer auch gegen ihre Nutzer gewendet werden.

Das gilt selbstverständlich auch für die Smartphones, die nicht nur zur Gegenüberwachung der Polizei, sondern mittels Funkzellenabfrage auch dafür gebraucht werden können, die Namen, Standorte und Bewegungen ihrer Nutzer zu erfassen – ganz abgesehen davon, dass nicht nur Geheimdienste die Möglichkeit besitzen, Smartphones so zu manipulieren, dass sie als Wanze einsetzbar sind und alles mitschneiden, was ihnen vor die Linse oder das Mikrofon kommt.

Es wäre künftig also eine nette Geste, ein Zeichen von Rücksicht, in engen sozialen Situationen, zum Beispiel in Bussen oder in U-Bahnen, das Mobiltelefon bei der Benutzung sich nicht so vors Gesicht zu halten, dass der Fahrgast gegenüber den Eindruck bekommen muss, er würde fotografiert oder gefilmt. Eine Lösung kann hier auch ein kleines, farbiges Post-it sein, das auf der Linse des Smartphones angebracht wird, um deren Sicht zu verdecken. Noch besser wäre ein zweiter Aufkleber, für die Kamera auf der Vorderseite.

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