Big Trouble in Tel Aviv

WIE MAN ERINNERUNGEN PLATT MACHT Über Leon de Winters Roman "Sokolows Universum"

Am Sonntag, dem 23. September 1990, wurde in der Schechunat Hatikwah, einem Stadtteil im Süden von Tel Aviv, ein Mord verübt." Lakonisch vielversprechend beginnt Leon de Winters sechster ins Deutsche übersetzte Roman, zugleich die sechste Variation seiner Themen Verlust und Tod und was das eigentlich ist, ein Jude zu sein. Wie in seinen früheren Büchern ist de Winters Abstiegsgespenst wieder hinter einem Privilegierten her, diesmal erwischt es den Ingenieur Alexander Iwanowitsch Sokolow, genannt Sascha. In der Sowjetunion hatte der, gemeinsam mit seinem besten Freund Lew, Weltraumraketen gebaut, bis ausgerechnet ein Flugkörper mit dem symbolträchtigen Namen "Oktober" Sekunden nach dem Start explodiert war. Nach fünf Jahren Eiszeit in Sibirien wird ihm kurz vor Beginn des Golfkriegs die Ausreise nach Israel bewilligt, das "nicht sein Land" ist. Wie viele de Winter-Figuren vor ihm ist auch Sascha ein "Pseudojude"; ohne jüdische Identität und nicht mal beschnitten liegt ihm nichts ferner als Synagoge, Klagemauer und Jom-Kippur.

Weil kein anderer Job zu kriegen war, kehrt Sascha für einen Hungerlohn die Straßen von Tel Aviv. Den beruflichen Absturz, seine gescheiterte Ehe und die Trennung von seiner kleinen Tochter kann er nicht verkraften. Außerdem ist er nach dem Raketendesaster durch eine unbedachte Äußerung über den Projektleiter Lew zum Verräter wider Willen geworden. Um zu vergessen, säuft er sich regelmäßig mit billigem Wodka unter den Tisch, verkommt von Tag zu Tag mehr. De Winter beschreibt diesen Verfall, dieses Leben zwischen vorübergehender Betäubung und völliger Selbsterniedrigung unsentimental, mit beängstigender Genauigkeit; alles dreht sich bloß ums Plattmachen von Gefühlen und Erinnerungen, keine Spur von nicht nur bei Bukowski leicht erhältlicher Trinkerromantik.

Am 23. September wird Sascha Zeuge des Mordes in der Schechunat Hatikwah. Nach einer Nacht nahe am Delirium bereits wieder schwer angetrunken und in Säuferphantasien verstrickt, glaubt der Straßenkehrer zwei, drei Wimpernschläge lang, in dem Täter seinen alten Freund Lew erkannt zu haben. Tatsächlich taucht der einige Tage später in Saschas nach Fusel und Erbrochenem stinkenden Zimmer auf. Statt der Gosse hat er eine Wohnung mit Meerblick und auch sonst glänzende Zukunftsaussichten zu bieten: eine millionenschwere Teilhaberschaft in einer von der Mafia finanzierten Firma, die Kriegswaffen herstellen soll.

Lew, der Zauberkünstler mit der Dress man-Figur, ein leidenschaftlicher Sammler von gebrochenen Frauenherzen, strotzt wie eh und je vor Tatkraft und Intelligenz. "Alles, was er anrührte, verwandelte sich in Energie." Er ist James Bond mit drei Doktorhüten und Seewolf Larsen, für den als Meisterschüler Darwins nur das zählt, was ihm nutzt. Erstaunlich, dass sich der Champions-League-Autor de Winter mit einer derart eintönigen RTL-Serienfigur zufrieden gibt. Bis kurz vor Schluß gestattet er dem sieggewohnten IQ- und Lendenwunder außer seiner Schwäche für den Zweifler und Moralisten Sascha nicht den kleinsten Ausrutscher, selbst die grimmigen Verhörspezialisten des KGB sind seinem klugen Kopf und Charme nicht gewachsen.

Ein Gutes hat der Kerl immerhin: Er holt Sascha raus aus dem Dreck, verordnet ihm Mineralwasser, Austern, Bettwäsche aus Seide. Man freut sich für den Ex-Straßenkehrer, wird gleichzeitig aber den Gedanken nicht los, dass es mit dem Schlendern durch elegante Herren-Boutiquen und dem sonnenbeschienenen Betrachten langer Frauenbeine möglicherweise schnell vorbei sein wird.

Und wirklich. Wie schon in seinem 98er-Buch Der Himmel von Hollywood verwöhnt uns der Autor mit einem langen, wahnwitzig furiosen Finale, einem Sprengstoff-Feuerwerk aus Hitchcock, Highsmith und Leon de Winters Sinn für Dramaturgie und einen mit allen Wassern gewaschenen Plot.

Kein Wort diesmal über de Winters subtilen Humor, seine schwer wiegende Leichtigkeit trotz tragischer Ereignisse.

Leon de Winter: Sokolows Universum. Aus dem Niederländischen von Sibylle Mulot. Diogenes Verlag, Zürich 1999, 434 S., 39,90 DM

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