Gerhard Schröder kann am 22. September das Kanzleramt im Osten verlieren - Edmund Stoiber dort vielleicht die entscheidenden Prozente holen - heißt es allenthalben. Wird das Gesetz der Serie bemüht, dann war es 1990 und 1994 tatsächlich das Votum aus den neuen Ländern, dem Helmut Kohl sein Regierungsmandat verdankte. Als er es 1998 aufgeben musste, waren die Ostdeutschen wiederum nicht unbeteiligt. In den östlichen Ländern verlor die CDU 10,6 Prozent - ein Minus, das deutlich über dem Verlust von 4,2 Prozent im Bundesdurchschnitt lag.
Wenn Bundestagswahlen in den neuen Ländern entschieden werden, dann galt das seit 1990 für die CDU in stärkerer Weise als für die SPD. Deren Gewinne in den neuen Ländern lagen 1998 mit 3,8 Prozen
98 mit 3,8 Prozent spürbar unter dem im gesamten Wahlgebiet verbuchten Plus von 6,6 Prozent bei den Zweitstimmen. Schon im Herbst 1999, mit den Abstimmungen über die Landtage von Brandenburg, Thüringen und Sachsen sowie zum Abgeordnetenhaus von Berlin, mussten die Sozialdemokraten krasse Einbrüche hinnehmen (der Deutschlandtrend/Ost schwankte seinerzeit zwischen 26 und 32 Prozent), die ihre Gewinne vom Jahr zuvor erheblich relativierten. Wie auch immer man zu der These stehen mag, dass Wahlverhalten der Ostdeutschen sei so etwas wie das Zünglein an der Waage - ob und wie die sich im Wahljahr neigt, ist derzeit noch völlig offen. Nach jüngsten Umfragen liegen CDU und SPD im Osten zu dicht beieinander (s. Tabelle), als dass sich daraus schon ein Trend zugunsten des Einen oder Anderen ableiten ließe. Außerdem schlägt bei alldem - trotz chronisch fallsüchtiger Ost-Quoten der SPD insgesamt - in der Kanzlerfrage noch immer der Amtsbonus Gerhard Schröders gegenüber Edmund Stoiber zu Buche. Allerdings könnte der bald verbraucht sein. Wenn, dann winkt Schröder eine Abwahl im Osten. War der "Aufbau Ost" zur Chefsage erkoren, wird logischerweise das "Versagen Ost" in den gleichen Rang erhoben. Bei einer Arbeitslosenquote von 19,2 Prozent (Februar 2002) verwundert es nicht, dass vier Fünftel der Menschen in den neuen Ländern angeben, mit ihrer ökonomischen Lage im zwölften Jahre der Einheit "keinesfalls glücklich" zu sein. Die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt am 21. April wird Aufschluss geben, wie sich diese Stimmung in Wahlprozenten widerspiegelt - ob zum Beispiel die Landes-CDU jenen Schub erhält, der sie bis in die Regierungsverantwortung trägt. Welche psychologische Wirkung ein solcher Erfolg bundespolitisch entfalten könnte, bedarf keiner weiteren Erörterung. Aber der Wähler/Ost gilt nicht nur als unentschiedener, sondern vor allem als unsicherer Kantonist. Er steht im Geruch des unbelehrbaren Wechselwählers. Auch zur Wahlabstinenz soll er sich öfter entschließen als sein Pendant im Westen. Dieses häufig kolportierte Urteil trifft für die Zeit seit 1998 insofern zu, als es sich auf seither abgehaltene Landtags- und Kommunalwahlen bezieht. Durch schon bei einer Analyse der Bundestagswahl von 1998 wie von Umfragen aus den vergangenen beiden Jahren lässt es sich kaum erhärten. Ende 2000 beispielsweise lag der Anteil derer, die 2002 die gleiche Partei zu wählen beabsichtigten wie 1998 in Westdeutschland bei 70 Prozent, während in Ostdeutschland 67 Prozent der Befragten angaben, sie würden - wahrscheinlich - erneut so votieren wie vier Jahr zuvor. Auch bei den Nichtwählern zeigten sich zu diesem Zeitpunkt im Ost-West-Vergleich keine signifikanten Unterschiede. Am 27. September 1998 waren zwischen Mecklenburg-Vorpommern und Thüringen rund 19 Prozent der Wahlberechtigten zu Hause geblieben, zweieinhalb Jahr später gaben 16 Prozent der Befragten an, sie wollten sich der Wahl 2002 auf jeden Fall verweigern. Neuere Untersuchungen aus dem Wahljahr deuten allerdings darauf hin, dass diese Quote am 22. September um einiges höher sein könnte, als es zur Mitte der Legislaturperiode den Anschein hatte. Von welchen Parteien kamen nun aber jene Wählerinnen und Wähler, die - soweit sich das aus den demoskopischen Daten ablesen lässt - anders abstimmen wollen als 1998? Recht eindeutig rekrutiert sich die Masse der Abtrünnigen aus der SPD-Wählerschaft. Mehr als die Hälfte der zum Parteienwechsel Entschlossenen hatte 1998 noch diese Partei und damit Gerhard Schröder gewählt. Ein Viertel der potenziellen Wechselwähler muss die CDU verkraften, immerhin sieben Prozent Bündnis90/Die Grünen, während für FDP und PDS geringere Anteile in Betracht kommen. Aber auch hier lassen vorliegende Erhebungen erkennen, dass die Bereitschaft zum Absprung in den neuen Bundesländern nicht größer ist als in den alten. Wie hoch muss nun der Anteil der zum Wechseln entschlossenen Wählern bezogen auf die 98er Wählerschaft der einzelnen Parteien veranschlagt werden? Den größten Verlust hätten mit über 30 Prozent die Bündnisgrünen hinzunehmen. Gleichfalls bemerkenswert wären die prognostizierten Einbußen bei der SPD, sie könnte über 22 Prozent ihrer Stimmen verlieren, was sich durch jüngste Umfragewerte als Trend erhärtet. Bei der CDU/CSU fiele diese Größe geringer aus, da sich knapp 85 Prozent der Befragten eindeutig zu Stammwählern erklären. Die geringste Abwanderung hätte danach die PDS zu gewärtigen, nur neun Prozent ihrer Wähler von 1998 wollen sich 2002 anders orientieren. Da diese Partei ihr Wählerreservoir nach wie vor vorzugsweise im Osten findet (1998: 21,6 Prozent Ost / 1,2 Prozent West) lässt sich das als stabilisierendes Moment für das Wahlverhalten in den neuen Ländern werten (s. Tabelle). Ebenfalls recht aufschlussreich ist nach den vorliegenden Durchschnittswerten die Antwort auf die Frage, wohin die Wechselwähler abwandern. Mit 29 Prozent strebt der unstrittig größte Teil ins Lager der Nichtwähler. Etwa 15 Prozent tendieren in Richtung CDU, 19 Prozent zur SPD, während PDS und FDP als kleine Parteien mit 13 beziehungsweise 7,5 Prozent mit einem für ihr Potenzial durchaus beachtlichen Zuwachs rechnen dürften. Bliebe noch die Frage, welche Anteile die Zuwanderungen an den aktuellen Umfeldern der einzelnen Parteien bilden. Bisher kann die FDP anteilig mit dem größten Zustrom kalkulieren. Dort anlandende Wähler hätten 2000/2001 fast 40 Prozent ihres Potenzials bestritten. Für die CDU/CSU lag die Zuwanderung bei zehn Prozent, für die SPD bei neun, für die Bündnisgrünen bei zwölf. Die PDS hätte zu diesem Zeitpunkt von der Wählerwanderung erheblich profitiert - 26 Prozent ihrer möglichen Wählerschaft wären aus dem Lager der Wechselwähler gekommen. Als Fazit bleibt momentan, dass 2002 der Wille, den Wahlen fernzubleiben, nicht wesentlich stärker ausgeprägt ist als 1998. Gleiches gilt für den Vorsatz, eine andere Partei zu wählen als vor vier Jahren. Das ist insofern beachtenswert, weil 1998 der in der Bevölkerung verbreitete Wunsch nach Veränderung Rot-Grün begünstigt hatte und sich nun ein Teil der Wählerschaft für unerfüllte Erwartungen revanchieren könnte. Dass dabei die Wähler im Osten ihren Part spielen, steht nicht in Frage - wie entscheidend der sein wird, schon.