Kassieren und blamieren

Filmerbe Skandal im Land der Dichter und Denker: Das Bundesarchiv vernichtet historisches Filmmaterial laufend und in großem Stil
Ausgabe 31/2015

Multimedial sind die ikonischen Filmbilder aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allgegenwärtig: Bilder wie die vom volksfestartigen Auszug blumengeschmückter Pickelhaubenträger aus Berlin im Sommer 1914. Bilder wie die von den Revolutionstagen und der Ausrufung der Republik im November 1918. Bilder wie die von den Bordbatterien des Kadettenschulschiffs Schleswig-Holstein, deren Schüsse auf die Westerplatte am 1. September 1939 die Kampfhandlungen in Polen eröffneten. Oder Bilder wie die von der im O-Ton dokumentierten Sportpalastrede des „Reichspropagandaministers“ Joseph Goebbels, mit der den bestellten Massen das Bekenntnis zum totalen Krieg abgerungen wurde.

Oder, oder, oder. Die originalen Filmrollen, so glauben geschichtsinteressierte Laien meist, würden für die kommenden Generationen gewissenhaft aufbewahrt. Dass viele dieser Originale längst vernichtet wurden und auch die verbliebenen von der Vernichtung bedroht sind, ahnt dagegen kaum jemand.

Explosive Filme

Zunächst muss man sich bewusst machen, dass die bekannten und medial oft zitierten Filmbilder nur einen winzigen Teil des reichhaltigen dokumentarischen Filmerbes darstellen. Dieses Filmerbe ist noch nicht einmal zur Gänze erschlossen – andernfalls wären längst keine spektakulären Funde mehr möglich, die von Journalisten und Historikern gelegentlich mit Berechtigung ausgerufen werden. Historisches Filmmaterial liegt zwar verstreut über das gesamte Bundesgebiet in unzähligen öffentlichen und privaten Archiven und Sammlungen. Der wesentliche Teil der filmischen Überlieferung, zumal die immens wichtigen Wochenschauen und staatlichen Dokumentarfilme, lagert jedoch im Bundesarchiv-Filmarchiv in Berlin.

Um die großen Bestände sogenannten Nitrofilms einlagern zu können, die durch die Wiedervereinigung in den Besitz des Bundes gelangten, hat das Bundesarchiv im Jahr 2005 eigens ein Außenlager in Berlin-Hoppegarten errichten lassen, dessen Nitrofilm-Bunker Besuchern und Journalisten gerne gezeigt werden. Diese Bunker sind nötig, da die Nitrozellulose, aus der die Filmunterlage besteht, leicht entzündlich ist und unter das Sprengstoffgesetz der Bundesrepublik fällt.

Der Großteil der 35-Millimeter-Kinofilme aus der Zeit vor 1945 liegt auf Nitrofilmrollen vor, wenngleich ab den 30er Jahren auch zunehmend sogenannter Sicherheitsfilm (auf Azetat-Unterlage) verwendet wurde. Nitrozellulose unterliegt einem unberechenbaren, unaufhaltsamen Zerfallsprozess, der die Brandgefährlichkeit erhöht. Seit der Frühzeit des Kinos sind Nitrofilm-Explosionen berüchtigt, sodass bereits Ende der 30er Jahre die Behörden den vollständigen Wechsel zum Sicherheitsfilm anordneten. Der konnte jedoch – kriegsbedingt – erst in den 50er Jahren abgeschlossen werden.

Dirk Alt ist Historiker und Dokumentarfilmer. Er forscht über Filmdokumente aus der Zeit vor 1945, Wochenschauen und Kriegsberichte

Seit 1988, als defektes technisches Gerät im damaligen Lagerort Koblenz-Ehrenbreitstein eine Explosion auslöste, die verbrannte Filmbüchsen in den Rhein hinabschleuderte, ist das Bundesarchiv im buchstäblichen Sinne ein „gebranntes Kind“: Mit ganz wenigen Ausnahmen werden daher Nitrofilme nach der erfolgten Umkopierung (früher auf Azetat-, heute auf Polyesterfilm) systematisch kassiert – was im Archiv-Jargon nichts anderes bedeutet als: vernichtet. Diese in der Dienstanweisung 6.4 formulierte Praxis entspricht dem internationalen Konsens, auf den man sich vor gut 40 Jahren geeinigt hat: So betrieben US-amerikanische Filmarchive unter dem Motto „Nitrate won’t wait“ (Nitrofilm wartet nicht) zum Teil bis in die 80er Jahre hinein copy and destroy.

Dann erfolgte ein Umdenken. Man erkannte nicht nur den archivalischen Wert des Originals, das durch eine Kopie nicht ersetzt werden kann, sondern stellte mit Verblüffung fest, dass einwandfrei hergestellte und gelagerte Nitrofilme sich als beständiger erwiesen als die von ihnen gezogenen Sicherheitsfilm-Kopien. Heute schätzen Experten, dass Nitrofilm bei guter Lagerung zwischen 300 und 500 Jahre alt werden kann, und auch die oft behauptete Selbstentzündlichkeit der Nitrozellulose ist wissenschaftlich widerlegt.

Dieser Kehrtwende, die die meisten international bedeutenden Filmarchive vollzogen haben, hat sich das Bundesarchiv bislang verweigert. Von den 140.000 Rollen Nitrofilm, die nach der Wiedervereinigung im Bundesarchiv lagerten, existieren heute nur noch knapp 70.000. In den zurückliegenden 25 Jahren ist demnach über die Hälfte des Bestandes vernichtet worden – und das, obwohl die Tücken dieser Praxis längst offen zu Tage liegen. So erreichen die älteren Umkopierungen keinesfalls die Qualität, die die heutige Technik erlaubt, es treten außerdem zwangsläufig Pannen auf (unvollständige Umkopierung, falsches Bildformat, schwarz-weiß statt Farbe, Farbverfälschungen etc.), die nicht mehr korrigiert werden können, weil die Ausgangsmaterialien in der Zwischenzeit entsorgt wurden. Wie Anna Bohn in ihrem Grundlagenwerk Denkmal Film (2013) dargelegt hat, verletzt die Kassationspolitik das Prinzip der Reversibilität, das für die Filmsicherung genauso gelten muss wie für die konservatorische Denkmalpflege.

Abbau der Bestände

Hinzu kommt, dass nicht jedes überlieferte Filmmaterial tatsächlich umkopiert wird – das liegt letztlich im Ermessen von Entscheidungsträgern, die fachlich nicht qualifiziert sind, gleichermaßen die zeithistorische, technikgeschichtliche und filmkünstlerische Bedeutung eines Materials zu beurteilen. Vor diesem Hintergrund sind die Mitarbeiter des Bundesarchivs, die ihrerseits nicht alle von der Richtigkeit der Filmvernichtung überzeugt sind, kaum zu beneiden. Mitunter hat das Engagement einzelner Mitarbeiter die Vernichtung von Materialien verhindert, die zunächst fälschlich für historisch unbedeutend und folglich verzichtbar gehalten wurden. Da der Bund für sich die Rechte an einem Großteil der zeitgeschichtlichen Filmdokumente reklamiert und diese Filmdokumente im Gegensatz zu Spielfilm-Klassikern keine Lobby haben, fallen Wochenschauen und Dokumentarfilme der Kassationspraxis besonders häufig zum Opfer.

Gegenüber Kritikern der Filmvernichtung beruft sich das Bundesarchiv auf sprengstoffrechtliche Vorschriften, die die Entsorgung des Nitrofilms verlangten. Auch sei dem Außenlager Hoppegarten nur eine befristete Lagergenehmigung erteilt worden, und zwar unter der Bedingung, dass die Bestände sukzessive „abgebaut“ würden. Neben den gesetzlichen Rahmenbedingungen erscheint aber noch ein anderer Antrieb für den verordneten „Abbau der Bestände“ denkbar, nämlich der Finanzdruck, der durch das Amt der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) an das materiell und personell längst ausgedünnte Bundesarchiv weitergegeben wird.

Die Dauerlagerung der Bestände, und zwar nicht nur von Nitrofilm, ist ein Kostenfaktor. Diese Kosten ließen sich durch die Filmvernichtung langfristig senken – und so ist vielleicht auch erklärbar, dass neben Nitrofilmen im großen Stil auch Materialien auf Sicherheitsfilm vernichtet werden, vor allem als überflüssig erachtete Doubletten.

Verführerisch muss die derzeit diskutierte Perspektive wirken, durch eine konsequente Digitalisierung die filmischen Artefakte überflüssig zu machen und an ihrer Stelle ein platz- und kostensparendes digitalisiertes Filmerbe zu verwalten. Doch ganz abgesehen von der Tatsache, dass bislang kein tragfähiges Modell zur Langzeitarchivierung digitaler Daten vorliegt, dem man einen Schatz wie das deutsche Filmerbe ruhigen Gewissens anvertrauen könnte, wäre der Dokumentenwert des Originals in Anbetracht der beliebigen Manipulierbarkeit digitaler Bildinformation unrettbar verloren.

Dokumentenwert haben nur die Ausgangsmaterialien, die filmischen Artefakte des analogen Zeitalters: Ihr erinnerungspolitischer Wert kann kaum hoch genug veranschlagt werden. Gerade vor diesem Hintergrund muss es Aufgabe der Politik sein, der Vernichtung dieser Dokumente Einhalt zu gebieten – bevor wir auch noch den Rest dessen verlieren, was die Zerstörungen des Zweiten Weltkrieges und jahrzehntelanger „Abbau“ übrig gelassen haben.

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