Ein bewegliches Heer von Metaphern

DIE KUNST IST DIE HERKUNFT Überlegungen zur Aktualität Friedrich Nietzsches im Jahr seines 100. Todestages

Im Jahre 1873 hat Friedrich Nietzsche einen Vortrag "Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn" gehalten, den er selbst nicht nur nie veröffentlicht, sondern auch geradezu verheimlicht hat. Ich weiß nicht, welche Gründe er für dieses Verschweigen gehabt hat, ich habe jedoch den Eindruck, dass ihn dieser Vortrag an einen Punkt der Bifurkation zwischen Wissenschaft und Philosophie gebracht hat, der es schwer gemacht hätte, sich für die Philosophie und gegen die Wissenschaft zu entscheiden, hätten er und seine Zuhörer damals schon begriffen, dass die Philosophie den von Nietzsche aufgegriffenen Gedanken zwar registrieren kann, aber kaum Möglichkeiten hat, ihn weiterzuverfolgen. Nietzsche ist Philologe und Philosoph geworden. Er hat sich gegen die Wissenschaft entschieden, weil ihn, so kann man vermuten, die philosophischen Konsequenzen dieser Thesen mehr interessierten als ihre wissenschaftlichen.

Vielleicht wäre er fünfzig Jahre später nicht Philosoph, sondern Epistemologe geworden. Er selbst jedenfalls war fasziniert und erschüttert von dem Zusammenbruch der Philosophie Alteuropas, und zwar auf eine Art und Weise erschüttert, die wahrscheinlich niemand besser geschildert hat als Martin Heidegger im letzten Kapitel seines Nietzsche-Buches. Kein Wunder, dass dieses Kapitel bis heute als eine Einführung in die modernen Kognitionswissenschaften gelesen werden kann.

Denn um nichts Geringeres geht es. Nietzsche war in diesem Vortrag zu der Einsicht gekommen, dass das Verhältnis des Menschen zur Welt ein metaphorisches ist. Wie vierzig Jahre später Fernand de Saussure und vierzig Jahre vorher Wilhelm von Humboldt sah er, bei allen Differenzen im Ausdruck und Verständnis, in der Wahrheit nichts anderes als ein "bewegliches Heer von Metaphern", das Bestimmung nicht durch sein Verhältnis zur Sache, sondern durch das Verhältnis der Metaphern untereinander gewinnt. Ein selbstreferentielles Korpus von Zeichen, das sich durch die Differenz der Zeichen zueinander artikuliert und sein Motiviertsein durch die Sache "metaphorisch" selbst artikuliert, das jedoch zunächst einmal nichts mit der Sache zu tun hat, sondern selbst eine höchst merkwürdige Sache ist. Damit war jede Kontinuität zwischen Welt und Begriff, wie sie noch der erkenntnistheoretische Zweifel, bewaffnet mit empiristischem Übermut, ex negativo kontinuierte, gesprengt. Damit war nicht nur die radikale Vereinsamung des Menschen in der von ihm gestrickten Welt der Begriffe besiegelt, sondern zugleich noch der Einblick in die übervolle Möblierung dieser Welt mit den semantischen Antiquitäten und Modernismen aller Zeiten zum Schicksal geworden. Wie jetzt noch klar denken?

Der wirklich brisante Punkt in diesem Vortrag ist jedoch, dass diese Einsicht in die Wahrheit als Metapher selbst nur eine Metapher für ein von Nietzsche mit bemerkenswerter Präzision geschildertes Problem gewesen ist. Für die Wahrheit interessierte er sich strikt im "außermoralischen Sinne", das heißt in einem Sinne, der diese Wahrheit nicht in Anspruch nimmt, um aus ihr Positionen der Positivwertung der eigenen Auffassung und der Negativwertung anderer Auffassungen zu gewinnen. Insofern war er doch bereits ein Epistemologe. Denn der außermoralische Sinn kann nur ein operationaler oder "pragmatischer" Sinn sein, der sich fragt, wie man zu bestimmten Wahrheiten kommt und was man aus ihnen und mit ihnen macht. Die Wahrheit, das war für Nietzsche ein Name für eine gelungene, eine stimmige, eine brauchbare "Relation der Dinge zu den Menschen". Wie aber, wenn man schon nach Operationen fragt, kommt es zu dieser Art von Wahrheit? Als Antwort auf diese Frage formuliert Nietzsche seine zentrale Einsicht: "Ein Nervenreiz, zuerst übertragen in ein Bild! Erste Metapher. Das Bild wird nachgeformt zu einem Laut! Zweite Metapher. Und jedesmal vollständiges Überspringen der Sphäre, mitten hinein in eine ganz andre und neue."

Worin liegt das Rätsel? In dem Zustandekommen des Bildes, des Lautes, schließlich des Begriffes? Oder in dem "Überspringen" der Sphäre? Vielleicht kann man sagen, dass die erste Frage den Philosophen interessiert, der dann, wenn er sich, schwierig genug, an die Ausgangseinsicht hält, sich nur an Verhältnisse "zwischen" Bildern, "zwischen" Lauten und "zwischen" Begriffen halten kann, wenn er sich den Vorgang begreiflich machen will. Die zweite Frage hingegen interessiert den Neurophysiologen. Denn genau daher kommt die Einsicht, auf die sich Nietzsche hier bezieht. 1858 war Johannes Peter Müller gestorben, nicht nur der Begründer der Physiologie, sondern auch gleich der Entdecker ihres Skandalons, das zwar Eingang in jedes Lehrbuch der Physiologie, aber weder in ihr Selbstverständnis noch in ihre Forschungspraxis noch in ihre Mitteilungen an das allgemeine Publikum gefunden hat, "ein faszinierender Lern- und Vergessenszyklus", wie einer der Wiederentdecker dieser Einsicht, der Kybernetiker Heinz von Foerster formuliert hat. Nur Müller jedenfalls war unbekümmert genug, das "Prinzip der undifferenzierten Codierung" niederzuschreiben, jenes Prinzip, das konstatiert, dass Nervenzellen zwar die Intensität einer Erregung, aber nicht ihre Qualität codieren. Nervenzellen nehmen zwar eine Erregung, aber nicht ihren Sinn wahr. Sondern sie erfinden diesen Sinn in internen Prozessen der Verrechnung von Erregungen mit Erregungen. Wir hören nicht mit den Ohren, sondern mit dem Gehirn; wir sehen nicht mit den Augen, sondern mit dem Gehirn; wir schmecken nicht mit der Zunge, sondern mit dem Gehirn; und so weiter. Das macht Ohren, Augen und Zunge nicht überflüssig, ganz im Gegenteil. Aber es zwingt uns, uns für jede Frage nach der Qualifizierung einer Sinneswahrnehmung nicht an die Außenwelt und nicht an die sogenannten Empfangsorgane, sondern an interne Prozeduren der Verrechnung von Erregungen zu halten.

Wir müssen annehmen, dass Nietzsche von diesem Prinzip gehört hatte. Er wiederholt in seinem Vortrag in dem genannten Zitat den neurophysiologischen Hauptsatz. Aber der Rest des Vortrags ist wie ein Taumel, in den dieses Prinzip die Philosophie versetzt. Und der Rest der Philosophie Nietzsches bis zum bitteren Ende ist es nicht minder. Die Verrechnung des Prinzips mit anderen erkenntnis- und sprachtheoretischen Einsichten und Auffassungen geriet außer Kontrolle. Die Philosophie geriet in Schwingungen, von denen sie sich bis heute nicht erholt hat, ja deren Diagnose sie sich bis heute verweigert.

Der Vortrag immerhin nennt noch eine Konsequenz mit äußerster Klarheit. Wenn zwischen den Sphären nichts anderes als ein "Überspringen" festgestellt werden kann, dann ist auf Kausalität in allen wesentlichen Belangen kein Verlass. Zwar "wirkt" dort etwas zwischen Nervenreiz, Bild, Laut und Begriff, aber es wirkt dort nichts, was festlegen und bestimmbar machen könnte, was am Begriff den Laut, am Laut das Bild, am Bild den Nervenreiz und am Nervenreiz die Sache treffen könnte. Kausalität, die Heimstatt nicht nur des technischen, sondern auch des organisatorischen und erzieherischen Sicheinrichtens des Menschen in der Welt, wird zur Stätte unkontrollierbarer, weil bereits unbeschreibbarer Vorgänge. Denn das Bild gewinnt nur am anderen Bild, der Laut nur am anderen Laut, der Begriff nur am anderen Begriff sein Profil und damit seine Erkennbarkeit. Zwischen den Sphären, so Nietzsche mit einer Übertreibung, die wir erst korrigieren können, seit wir Kausalität nicht mehr mit Kontrollierbarkeit gleichsetzen, "gibt es keine Kausalität, keine Richtigkeit, keinen Ausdruck, sondern höchstens ein ästhetisches Verhalten, ich meine eine andeutende Übertragung, eine nachstammelnde Übersetzung in eine ganz fremde Sprache: wozu es aber jedenfalls einer frei dichtenden und frei erfindenden Mittelsphäre und Mittelkraft bedarf."

Damit ist jene Differenz zwischen Kausalität und Ästhetik benannt, die Ende des 18. Jahrhunderts noch zur Vorstellung der "schönen Wissenschaften" geführt hat und die bis hin zu den Begründern der Kybernetik Ideen einer "eyperimentellen Ästhetik" (Warren McCulloch) motiviert hat. Tatsächlich ist es nie gelungen, den Erkenntnisgedanken von Kausalität auf Ästhetik umzustellen, so sehr dies auch in der sogenannten Postmoderne wieder umschwärmt worden ist und so sehr die Ästhetik heute geeignet scheint, sich mit jenem ökologischen Bewußtsein zu verbünden, das davon ausgeht, dass jede Sphäre (Organismus, Gehirn, Bewußtsein, Kommunikation) sich selbst und alle anderen Sphären erfindet, ohne dafür in irgendeiner kosmologischen Supersphäre, die alle anderen in sich vereint, Regularien, Prinzipien oder auch nur Vetoregeln vorzufinden. Gregory Bateson sprach daher davon, dass es wichtig wäre, Systeme gleich welcher Art unter dem Gesichtspunkt ihrer "ästhetischen Präferenz" zu untersuchen. Dieses Programm haben wir nach wie vor kaum verstanden, geschweige denn in Angriff genommen.

An Nietzsche jedoch lässt sich studieren, wohin man kommen kann, wenn man vor diesem Programm ausweicht, indem man sich seine Konsequenzen klarzumachen versucht, bevor es überhaupt ausbuchstabiert wurde. Die Heimatlosigkeit des Verzichts auf übergreifende Referenzen hält auch der Übermensch nicht aus, der aber immerhin markiert, worauf es ankäme, nämlich gerade nicht auf den Übermenschen, sondern auf den seiner wunderbaren Fragilität bewussten Menschen. Heimatlos sind wir nur, solange wir Müllers Prinzip der undifferenzierten Codierung mit der alteuropäischen Ontologie und Kosmologie verrechnen. Auch damit bestätigen wir zwar die grundsätzliche Einsicht. Aber wir bleiben weit davon entfernt, herauszufinden, wo wir uns beheimaten könnten, wenn wir begönnen, in diesem Programm die ersten Schritte zu machen. Oder besser gesagt: wenn wir begönnen, die jüngere Neurophysiologie eines Humberto Maturana, Gerhard Roth, Wolfgang Singer, Detlev Linke oder Hinderk Emrich sowie die Philosophie der Sphäre eines Peter Sloterdijk als längst nicht mehr erste Schritte mit dieser ursprünglichen Einsicht zu verrechnen.

Schon Nietzsche wies in seinem Vortrag von 1873 darauf hin, dass wir die Kunst nur so lange für einen Traum halten, wie wir glauben, wach zu sein, wenn wir es mit regelmäßigen Begriffen zu tun haben. Ich halte es für eine der sympathischsten seiner Umwertungen der Werte, wenn er dafür plädiert, dies umgekehrt zu sehen. Aber das würde bedeuten, die Kunst nicht als Ausflucht, sondern als Herkunft zu sehen. Und dieser Gedanke scheint mir, mit Verlaub, schwerer auszuhalten zu sein als der des Übermenschen.

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