Springbrunnen“ heißt ein gewaltiger Platz in der Stadt Guiyang, an dem sich die China-Mittlere-Straße und die Yanan-Mittlere-Straße begegnen. So viel „Mittleres“ in den Straßennamen zeigt im Südwesten Chinas gewöhnlich an, dass hier das Stadtzentrum liegt. An den spiegelverglasten Bürotürmen allein lässt sich das nicht erkennen, die sind in allen Richtungen zwischen 20 und 30 Stockwerke hoch. Die Springbrunnen – es sind insgesamt vier – sprudeln jeweils zwischen den Rechtsabbieger- und Geradeaus-Fahrbahnen. Fußgänger müssen durch die Unterführung. In dieser von jedem Tageslicht abgeschirmten Passage arbeiten etwa 20 Menschen: Ich zähle acht Reinigungskräfte, deren Fotos ordentlich in das „On-Duty“-Board eingesteckt sind; dazu kommen ein Dutzend uniformierte Sicherheitskräfte, die in dieser Region auch von Privatfirmen rekrutiert sein können und für die öffentliche Ordnung zuständig sind.
Plakate in Leuchtrahmen werben unter der Erde für Pole-Dance-Kurse mit der Trainerin Xin Yu. Ebenso für ein Fotostudio, das Alben mit Hochzeitsfotos anbietet. Es gibt Aufsteller für Rafting-Urlaubsreisen nach Taoyuan und Werbung für Milch. Fährt man an der Nordwestseite die Rolltreppe wieder herauf, gerät das Kaufhaus Modern Capital ins Blickfeld. In dessen Schaufenstern hängt Werbung für Estee Lauders Hydrationist, Diors Addict Ultra-Gloss, Max Mara und Armani Collezioni. Keines der abgebildeten Models ist auch nur entfernt asiatisch. Aus einer weiteren Auslage heraus wacht George Clooney für Omega mit ernst besorgtem Blick über einem erschöpft auf dem Marmorsims am Trottoir schlafenden Wanderarbeiter. Ein Stillleben aus vieldeutigen Versprechen und der eindeutigen sozialen Wirklichkeit in Guiyang.
Großes rotes Banner
Die Schlange an der Pizza-Hut-Filiale in der Innenstadt ist so lang, dass sie bis auf die Straße reicht. Eine apart aussehende Dame mittleren Alters verteilt an jeden Wartenden eine Visitenkarte, auf der für eine Firma geworben wird, die „echte Steuerquittungen“ (gemeint sind auf echt frisierte) für alle Gebiete der Provinz Guizhou anbietet. Ein Angebot zum Steuerbetrug, das gern entgegen genommen wird.
Laut Stadtplan müsste auf der gegenüberliegenden Straßenseite der Neues-China-Buchladen sein, aber dessen Schild mit der charakteristischen Handschrift Mao Zedongs ist nirgends zu sehen. Wie sich herausstellt, heißt das Geschäft jetzt Südwestwind und ist schwer zu finden. Man muss hindurch zwischen Bangkok-Silberschmuck und einem Handy-Laden, vorbei an Papa Johns Pizza und dann hinauf in den ersten Stock. Im Foyer des Buchladens hängt ein großes rotes Banner, um anzuzeigen, dass in diesen Räumen das neue Werk mit Essays des Genossen Li Ruihuan verkauft wird. Das 76-jährige ehemalige Mitglied des KP-Politbüros hat Die Wahrheit in den Fakten suchen geschrieben. Um die man auch in diesem Shop nicht herum kommt, an den Wänden hängen alte Propagandaplakate: Die Volkskommunen sind gut! ist da zu lesen oder Mit aller Kraft die Landwirtschaft unterstützen! Weiter hinten gibt es sogar ein Proletarier aller Länder vereinigt Euch! – Wahrscheinlich ist es kein Wunder, dass sich dieser Buchladen die teuren Verkaufsflächen im Erdgeschoss nicht mehr leisten kann.
Wo sich weiter westwärts die Yanan-West-Allee mit dem Ruijin-Nord-Boulevard trifft, gibt es die nächste Unterführung, die ganz offensichtlich ohne Sicherheitspersonal auskommt und voll gestopft ist mit kleinen Läden. Aber die Bewohner der Provinz Guizhou sind an Enge gewöhnt. Auf dem weiten Land vor den Toren der Stadt, weit draußen zwischen den Karstbergen, wird jeder Quadratmeter bepflanzt. Es gibt anderthalb Meter breite Schläge, die sich bis in die letzte Felsspalte hinein ziehen, um jeden Sonnenstrahl betteln und ein paar Maispflanzen vorweisen, an denen sich Gelbe Bohnen hoch ringeln. Noch effizienter kann Landwirtschaft kaum sein.
Die durchschnittliche Fläche pro Hof liegt in dieser Gegend bei 1.300 Quadratmetern. Wenn das Feld ein Quadrat wäre und nicht – wie hier üblich – aus sieben oder acht einzelnen Parzellen bestehen würde, hätte jede Seite dieses Ackers eine Länge von nur 36 Metern. In guten Jahren reicht eine solche Fläche, um fünf- oder sechsköpfige Familien zu ernähren – in schlechten Zeiten, wenn der Regen ausbleibt, wird regelmäßig gehungert, besonders in Dörfern mit noch kleineren Anbauflächen. Dann bleibt für viele Familien nur ein Ausweg: Wanderarbeit.
In der Ruß-Wolke
Doch zurück in die Stadt und zur Unterführung am Ruijin-Nord-Boulevard. Auch hier wird jeder Quadratmeter gebraucht: Es gibt winzige Werkstätten für Bilderrahmen, Ateliers für Maniküre, Schuhverkäufer, Magazine für Schulbücher. Wie gesagt, etwa 100 Läden mit mindestens doppelt so vielen Angestellten haben sich unter einer einzigen Straßenkreuzung etabliert. Sogar auf der Treppe sitzt noch jemand, der seine an einer Schnur festgeknoteten Stempel verkaufen will und unermüdlich anpreist, was man mit seinen gefälschten Siegeln – die in China einer Unterschrift gleichgestellt sein können – alles anfangen, vor allem besorgen kann.
Weiter westlich liegt der ehemalige Busbahnhof. Die große Fläche ist, wie die Guiyanger sagen, für „Deng Xiaopings Tochter aufgehoben worden“. Deren Immobilienfirma soll in diesem Viertel der Stadt die „Entwicklung“ übernehmen, und bei einer erstklassigen zentralen Lage wie diesem ehemaligen Bus-Terminal müsste sich die Tochter des einstigen Chefreformers schon sehr dilettantisch anstellen, um dabei nichts zu verdienen. Ein Projekt wie dieses erklärt im Übrigen, warum in China die Reichen immer reicher werden.
Komplettiert wird die Infrastruktur dieses Teils der Vorstadt durch die schon fertigen Stützen einer neuen Hochstraße, die aus südlicher Richtung über die Berge herangeführt wird und fünf Meter vor noch bewohnten Plattenbauten enden soll.
Noch weiter stadtauswärts wird alles grau – die Häuser und deren verrußte Fenster. Die Bäume und deren staubige Blätter. Selbst der Wind. Die Jeans der arbeitslosen Jugendlichen, die an einer Bushaltestelle hocken. Die Hände der Frauen, die abgefahrenen LKW-Reifen auf der Ladefläche eines Kleintransporters. Das hochgekrempelte Hosenbein und die Wade des Müllsammlers, der mit flüchtigem Blick von einem klebrig verschmierten Mülleimer zum nächsten schlurft. Auch der Sack ist grau, den er an einer Tragestange über der Schulter schleppt. Seine ehemals grünen Turnschuhe aus den Beständen der Volksbefreiungsarmee nicht zu vergessen. Grau sind die Haare des alten Mannes, der Maiskolben über einem Kohlebecken unter freiem Himmel brät. Mit einem zerfledderten Fächer aus Palmenblättern facht er die Glut an und graue Kohlewolken steigen auf. Trotzdem wirft eine Straßenkehrerin hungrige Blicke auf den Mais, fragt nach, bekommt aber als Antwort nur ein idiotisches Lächeln. Der alte Mann streckt seine Hand aus und fasst nach ihrer Bluse, sie weicht zurück. Ein Bus kommt, aber die Jugendlichen steigen nicht ein. Sie erheben sich nicht einmal aus der Hocke, als die Abgas-Wolke des Fahrzeugs ihnen durch die modisch strubbelig frisierten Haare fährt.
Gut zehn Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, wo inzwischen ein neuer Busbahnhof seine Schuldigkeit tut, gibt es auf einmal wieder Farben. Hier entsteht das „Olympiastadion“ der Provinz Guizhou im Stil des Pekinger „Vogelnestes“, des architektonischen Codes der Olympischen Spiele von 2008. Im Umfeld gibt es 30-stöckige Wohnblocks und eine riesige Wohnanlage, deren Atmosphäre „mediterran“ sein soll: Leisure Town mit Natursteinen, flachen Gebäuden und offenen Veranden. Die Wanderarbeiter, die daran arbeiten, und deren Stimmen von den gut 40 Meter hohen Baugerüsten herunter schwimmen, stehen ohne Sicherungsgurt auf Stahlstangen und werden – solange sie in Guiyang bleiben – immer nur auf Baustellen wohnen. Wenn sie mit 50 für diese Arbeit und das Nomadisieren zu alt sind, werden sie die Stadt für immer verlassen und mit kümmerlichen Ersparnissen – wenn die überhaupt reichen – in ihrem Heimatdorf ein- oder zweistöckige Betonhäuser bauen, um etwas Neid unter die Nachbarschaft zu tragen. Nachdem ihre Arbeitskraft 30 Jahre lang den Städtern genutzt hat, wird ihre Altersversorgung wieder dem Dorf aufgehalst.
Ein Springbrunnen plätschert
Auf den von Wanderarbeitern gebauten Wohnung-Arealen werden derweil die leben, die an diesem Nachmittag mit ihren aus Japan importierten Autos heraufkommen, um sich vom Fortgang des Baugeschehens zu überzeugen. Darunter eine Frau mittleren Alters, mit einem Regenschirm vor den unangenehmen Sonnenstrahlen geschützt, mit der Tochter in einem mit rosa Spitzen besetzten Kleid an der Hand. Hier werden die wohnen, die schon vor Baubeginn im Jahr 2008 das Geld hatten, eine der Wohnungen zu zeichnen, deren Wert seitdem von 2.500 Yuan pro Quadratmeter auf das Doppelte gestiegen ist.
Wer wegen fehlender Berufserfahrung oder wegen mangelnder Chinesisch-Kenntnisse auf den Bauplätzen von Leisure Town keine Arbeit findet, verdient sich den Lebensunterhalt in der Regel mit dem Tragen schwerer Lasten. Tagsüber liegen diese Arbeitsnomaden ausgestreckt auf ihren trichterförmigen Körben vor Geschäften und warten auf Kundschaft. Auch nachts sind viele auf den Bürgersteig angewiesen, vorzugsweise links und rechts der Ruijin-Nord-Straße. Hunderte sammeln sich dort jeden Abend. Wer als Wanderarbeiter alt wird, nicht in sein Dorf zurück und auch das Joch des „Tragelöhners“ nicht länger schultern kann, dem bleibt nur das Müllsammeln.
Domizil für diese Dienstleister sind die stadtnahen Steilhänge bei Xiguacun, wo Menschen so arm sein können, dass sie Regenwasser trinken. Ihre Kinder helfen jeden Morgen beim Einsammeln leerer Plastikflaschen, kommen auf dem Weg in die Innenstadt von Guiyang an erstklassigen Schulen vorbei, die eine 400-Meter-Bahn und mehrere Basketballplätze mit Gummiboden vorweisen – und die Kinder werden wissen, dass sie eine solche Anstalt nie betreten werden.
Ihnen bleibt nicht mehr, als in einer der billigen Privatschulen zu lernen, in denen mit nur 700 Yuan (etwa 83 Euro) Monatsgehalt demotivierte Lehrer ständig wechseln und der einzige Basketballplatz einen Betonboden hat, ganz zu schweigen von den zerrissenen Körben ohne Brett. Die Stadtregierung von Guiyang gibt pro Jahr einen Zuschuss von 120 Yuan für jeden Schüler – doch aus einem Grund, den keiner kennt, wird diese Subvention seit Ende vergangenen Jahres nicht mehr gezahlt.
Spätestens vor der höchsten Klasse – sie ist mit dem neunten Schuljahr erreicht – müssen die Kinder wieder in ihre Dörfer zurück, denn die ihnen zugedachte Kategorie von Privatschulen darf keine offiziell anerkannten Zeugnisse ausstellen. Es kommt vor, dass die Kinder – als Halbwüchsige – nach einem Jahr wieder in der Stadt auftauchen, jetzt selbst Wanderarbeiter wie ihre Eltern. Alles beginnt von vorn, der Kreislauf des Lebens für die von ganz unten.
Am Eingang zum ersten, bereits fertig gestellten Block von Leisure Town plätschert ein Springbrunnen. Vor dem Bauzaun zum zweiten Abschnitt des Luxus-Areals liegt ein erschöpfter Wanderarbeiter und schläft.
Dirk Reetlandt lebt seit mehreren Jahren als freier Autor in China
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