Von der Kapitale Zhengzhou in der Provinz Henan führt eine neue Autostraße in die Stadt Dengfeng. Von dort geht es weiter in den Kreis Daye und durch das Dorf Qiaobanhe, in dem die ansonsten gut ausgebaute Überlandtrasse zu einer Ansammlung von Schwellen und Schlaglöchern gerät, weil in dieser Gegend privatisierte Kohleminen zu dicht unter der Oberfläche abgebaut haben. Der Boden sinkt ab, die Häuser auf beiden Seiten der Piste sind in sich gekehrt und gekrümmt wie nach einem starken Erdbeben und stehen größtenteils leer. Im weiteren führt der Weg vorbei an noch mehr Kohlengruben, deren Fördertürme und Schornsteine man in der dunstigen Luft nur schemenhaft erahnen kann. Auch bei klarem Himmel wie an diesem Tag beträgt di
die Sicht nicht mehr 500 Meter.Rechts der Straße taucht plötzlich ein roter Farbfleck aus dem eintönigen Grau hervor – ein Hinweisschild auf das Altenheim im Dorf Zhoushan. Auch wenn es sich dabei nur um drei höchst spartanisch eingerichtete Zimmer handelt, ergibt sich daraus doch ein Grund für die Fahrt hierher: Zhoushan ist ein Projektdorf des Henan Community Center for Education and Research (HCCER). Dieser Nichtregierungsorganisation (NGO) geht es in Zhoushan um Alternativen zum tradierten chinesischen Raster – „der Sohn versorgt die Eltern“. Parallel dazu ist Zhoushan von der Zentralregierung dazu auserkoren, die Einführung einer ländlichen Rentenversicherung zu erproben. Die gibt es bisher nicht, und falls das Experiment von Zhoushan und in anderen Gemeinden glückt, könnte ein System gefunden sein, das einige hundert Millionen Chinesen im Alter absichert.Liang Jun, Gründerin des HCCER, erklärt, wie eine solche Rentenversicherung gleichsam zu größeren Frauenrechten, für die sich ihre NGO einsetzt, führen sollte. „Die Ersparnisse ihres ganzen Lebens stecken chinesische Bauern gewöhnlich in die Häuser ihrer Söhne. Sie haben dann nichts mehr zum Leben und sind finanziell völlig von ihren Familien abhängig“. Liang Jun versucht nun, einer durch die strengen Geburtenkontrollen der achtziger und neunziger Jahre stark überalterten Gesellschaft neue Modelle der Altersversorgung anzutragen. Zunächst einmal soll die Dorfbevölkerung anerkennen, dass sich auch die Töchter oder die Töchter und Söhne gemeinsam um die Eltern kümmern. Akzeptanz hieße in diesem Fall, dass die Dorfregierung den im Ort bleibenden Töchtern genauso viel Land zuteilt wie den Söhnen. Bisher konnte höchstens eine einzige Tochter ein solches Privileg beanspruchen und das auch nur, wenn es in einer Familie keinen Sohn gab.Alle werden über 70Um die Abhängigkeit von den männlichen Nachkommen der Familien zu senken, versuchen Liang Jun und ihr HCCER, ältere Dorfbewohner durch einkommenschaffende Maßnahmen unabhängiger zu machen. In Zhoushan etwa durch die Fabrikation einer begehrten Sorte traditionellen Essigs, auf das gesamte Land übertragen durch Altersheime und eine Rentenversicherung. Pensionen werden in Zhoushan probehalber schon seit vier Jahren gezahlt, allerdings fällt es schwer, jemanden zu finden, der über das noch in der Versuchsphase befindliche System Auskunft erteilen kann – oder will.Schließlich erklärt sich Xie Shunping, die Vorsitzende des Dorfparteikomitees, dazu bereit. Sie tut es zögernd und warnt, dass sie „auch nicht alles so genau wisse“. Ihre Zahlen hat die stämmige Fünfzigjährige dann aber sehr gut im Kopf: Etwas mehr als 1.400 Menschen würden in Zhoushan wohnen, das seien genau 300 Haushalte. Insgesamt müsse man davon 154 als „alt“ einstufen, was nach chinesischer Lesart bedeutet, dass Menschen über 60 dazu gehören. Und wie viele davon haben jetzt eine Rentenversicherung? Da ist sich Xie Shunping nicht sicher. „Mehr als zehn, weniger als 20“, lächelt sie schüchtern mit ihren zwei silbernen Scheidezähnen. Meistens seien die Söhne der Ansicht, dass es sich nicht rechnet. Denn das „Rentensystem“ sähe so aus: Für 9.000 Yuan Einmalzahlung könnten sich über Sechzigjährige freiwillig versichern. Sie bekämen dann bis an ihr Lebensende monatlich 100 Yuan.Wer über 73 ist, kann für weniger – schon für 3.500 Yuan – diesem System beitreten. „Sollten jemand danach innerhalb von zwei Jahren sterben, erhalten die Angehörigen den Teil des noch nicht ausbezahlten Geldes zurück, und außerdem 1.000 Yuan fürs Begräbnis“.Xie Shunping lächelt noch einmal, diesmal nicht mehr schüchtern, sondern zufrieden. Und was rechnet sich daran nicht? Xie Shunping: „Wenn man die durchschnittliche Lebenserwartung von 70 Jahren zugrunde legt, bringt eine solche Rente etwa den gleichen Ertrag wie eine gut verzinste Bankeinlage, heißt es in Zhoushan.“ Doch mit dieser Rechnung sei sie nicht einverstanden. „Nein, alle werden über 70!“ Auch die Männer, die in den umliegenden Kohlebergwerken arbeiten und oft noch stark rauchen? „Ja, wegen der guten Luft hier“, meint Xie Shunping und deutet auf den Dunst ringsherum.Unabhängig vom Streit um die tatsächliche Lebenserwartung und um alle Versicherungsmathematik – 100 Yuan im Monat, das ist auf alle Fälle zu wenig, als dass die Menschen in Zhoushan aufhören würden, um jeden Preis einen Sohn zu wollen. Von den Frauen der Gemeinde, die nach und nach zusammengekommen, um bei der Unterhaltung mit Xie Shunping zuzuhören, hat lediglich eine Einzige nur ein Kind – und die ist erst 24 Jahre alt.