Die größte Enttäuschung des 66. Filmfestivals von Venedig kam zum Schluss. Die Jury, der so vertrauenswürdige Menschen wie Ang Lee, Joe Dante und Sandrine Bonnaire angehörten, prämierte am Sonntag nur Filme mit Willen zum Konsens und ignorierte jene, die ein ästhetisches Wagnis eingingen. Zwar vereint Samuel Maoz’ mit dem Goldenen Löwen ausgezeichneter Anti-Kriegsfilm Lebanon ein humanistisches Anliegen mit einem originellen inszenatorischen Zugang. Für einen wirklich herausragenden Film fehlt ihm jedoch der Mut, über ein universelles Drama der menschlichen Überforderung hinauszugehen. Das Innere eines Panzers ist der einzige Schauplatz des Films. Der Blick nach draußen bleibt auf jenen durch das Zielfernrohr beschränkt. Die konzeptuelle Idee, die ein wenig an Wolfgang Petersens Das Boot erinnert, erweist sich als äußerst effektvolles Mittel, die Unwägbarkeiten des Krieges zu thematisieren. Jede Krisensituation verlangt eine Vielzahl von Entscheidungen, aus denen moralische Dilemmata erwachsen. Die spannendsten Momente des Films sind jene, in denen der Panzer die Subjektivität der Protagonisten aufhebt. Doch Maoz, der als junger Mann selbst im ersten Libanonkrieg von 1982 gekämpft hat, interessiert sich mehr für die psychische Belastungsprobe, die unter den Soldaten Friktionen hervorruft. Vor allem in der zweiten Hälfte des Films wirken die Konflikte unter ihnen zu demokratisch austariert.
Man könnte mit Levanon als Kompromisskandidat gut leben, fielen die anderen Auszeichnungen kontroverser aus. Der Preis der besten Regisseurin für die Künstlerin Shirin Neshat zielt indes in eine ähnliche Richtung. Women Without Men, die hoch stilisierte Adaption von Shahrnush Parsipurs Roman um vier Frauen im Iran der fünfziger Jahre, mag durch aktuelle Ereignisse oberflächlich an Brisanz gewinnen. Doch die Frauenbilder geraten zu unverbindlich in ihrer Modellhaftigkeit, und die Durchdringung von Individuum und historischer Situation bleibt zu schematisch, als dass daraus eine tragende Konstruktion würde. Das Ergebnis ist ein unentschiedener Film, der zwischen Ausstattungskino und humanistischem Drama keine eigene Position einnimmt. Soul Kitchen, Fatih Akins turbulente Komödie um einen griechischstämmigen Restaurantbesitzer, der sich in einer Unglückspirale verfängt, wirkt nach dem gewichtigen Auf der anderen Seite wie ein Befreiungsschlag des Regisseurs. Die Rückschau auf eine bunte Hamburger Bohème, die von einem eklektischen Soundtrack und vergnüglichen Running Gags getragen wird, ist energiegeladen, sympathisch, aber immer ein wenig zu populistisch.
Der Wettbewerb der Mostra, den Direktor Marco Müller erneut mit Lust an widersprüchlichen Formen bestückt hatte, bot mehr Substanz, als diese Preisträger vermitteln. Die Diversität von Filmen unterschiedlicher Kinematografien produzierte spannende Überschneidungen: Französische Autorenfilme standen neben unabhängig finanzierten US-Genrearbeiten, entlegene Filmländer wie Sri Lanka oder die Philippinen trafen auf ein Werner-Herzog-Doppel und Polit-Agitprop von Michael Moore. Eine der ergiebigsten Linien im Programm führte durch Territorien, in denen verbürgte Ordnungen entweder gerade dabei sind aufzubrechen oder längst aufgehoben sind: In John Hillcoats Cormac-McCarthy-Adaption The Roadwerden vor devastierten Landschaften Fragen nach dem Sinn des Weiterlebens akut. Die fragile Balance der Romanvorlage, die sich zwischen Stillstand und Ausbrüchen bewegt, bleibt gewahrt: Der Film muss sich nicht zwischen einem Überlebensdrama und der Erzählung von metaphysischer Not entscheiden. Auch in Survival of the Dead, George A. Romeros jüngstem Zombiefilm, stellt sich die Frage von ethischem Handeln neu: Auf einer kleinen Insel bekriegen sich zwei verfeindete Clans um das weitere Vorgehen gegen die Untoten. Romero, seit jeher ein linker Gesellschaftskritiker, rekurriert auf den Western, um mit aufrichtigem Humanismus von totalitären Verhärtungen zu erzählen. Dazwischen poppen wie bei Tex Avery Augen aus ihren Höhlen.
Claire Denis’ White Material spielt wiederum in einem namenlosen Staat (möglicherweise Ruanda), in dem gerade ein blutiger Militärputsch tobt. Die meisten Menschen ergreifen die Flucht, nur Maria Vial (Isabelle Huppert) harrt auf ihrer Kaffeeplantage aus, weil sie sich in Afrika nicht mehr als Außenseiterin begreift. Denis macht aus dem brisanten Stoff keines der einschlägigen Politdramen mit einfältigen Rollenmustern, sondern eine faszinierende Meditation über die Widersprüche einer postkolonialen Identität. Mit Maria Vial kreiert sie eine eigensinnige Figur, die sich zwischen allen Fronten bewegt und gegen jede politische Vernunft agiert. Die Plantage wird zum Schauplatz eines schleichenden Zerfalls, in dem die Ordnungen wie unter Zeitlupe aufbrechen. Gesicherte Positionen, politische Gewissheiten sind hier nicht mehr möglich.
Solche Beharrlichkeit angesichts widriger Umstände bewiesen die eindringlichsten Figuren des Festivals. In deren individuellem Kampf spiegeln sich politische Realitäten wider. Die Bilder dieser Filme werden nicht zu Vehikeln vollmundiger Thesen wie bei den US-Populisten Michael Moore und Oliver Stone, die am Lido das größte mediale Echo hervorriefen. Der Trotz der Huppert, die sich gegen den Lauf der Ereignisse stellt, fand beispielsweise im Stehvermögen der beiden Großmütter aus Brillante Mendozas Film Lola ein Echo. Die eine ist mit dem Opfer eines Raubmords verwandt, die andere mit dem Täter. Beide eint die Armut, die sie zu einem selbstlosen Tun zum Wohle ihrer Familien antreibt. Der Philippine Mendoza, für sein Entführungsdrama Kinatay dieses Jahr schon in Cannes prämiert, folgt seinen Protagonisten in langen, ungeschnitten und ungemein intensiven Szenen, in denen sich die Zeitlichkeit des Films an jener der Körper orientiert. Lola ging bei den Hauptpreisen ebenso leer aus wie Jessica Hausners Film Lourdes, der immerhin mit vier Nebenauszeichnungen bedacht wurde.
Die Geschichte von Christine (Sylvie Testud), einer jungen Frau im Rollstuhl, die in den französischen Wallfahrtsort in der Hoffnung auf Heilung kommt, fasst die Österreicherin behände in ein bizarres Setting ein, das wie eine katholischer Themenpark wirkt. Das Wunder, das Christine schließlich erfährt, bringt die Widersprüche des Ortes noch stärker hervor. Warum gerade diese Frau, wo sie nicht einmal allzu gläubig erscheint? Im großartigen Finale findet der Film zu einem faszinierenden Bild, in dem die Dialektik kurz stillsteht: Während lautstark der Italo-Schlager Felicità zu hören ist, lehnt die auferstandene Heldin an einer Wand. Verletzbarer denn je.
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