Die österreichische Schriftstellerin ist links, feministisch und damit sogar erfolgreich. Marlene Streeruwitz’ neuer Roman Nachkommen handelt von der ebenfalls engagierten, ebenfalls „männerfeindlichen“, obwohl doch „bildhübschen“ Jungautorin Nelia Fehn, die den wichtigen Deutschen Buchpreis knapp verfehlt – genauso übrigens wie Streeruwitz selbst, weshalb dieses Buch auch in die „Sparte Abwehr- und Vorwurfsliteratur“ einer Verliererin gehört.
Irrerweise hat die Streeruwitz auch noch einen zweiten Roman geschrieben, den ihrer 20-jährigen Protagonistin und der erscheint im September ebenfalls im S. Fischer Verlag. Mal sehen, ob sie diesmal dafür auf der Frankfurter Buchmesse den Buchpreis kriegt – oder ihre „Verjüngung“ Nelia Fehn. Wäre ja eine Gaudi, wenn gleich beide ... oder beide wieder knapp daneben, als Rache des Literaturbetriebs, den Streeruwitz mit ihrem „satirischen Schlüsselroman“ aufs Korn nehmen will. Der Pangäa-Verlag im Roman ist ja unverkennbar Suhrkamp, und die blöde Kuh, die nur für alte Germanisten schreibt und bei der Verleihung Rabatz macht, die Lewitscharoff. Der alte Kowalski ist natürlich Reich-Ranicki. Und dieser besoffene Machtmensch namens Umlauf ist, ähm ...
Das ungewollte Kind
Das sind doch alles Klischees, rufen jetzt viele. Dabei will dieses Buch zunächst einmal dies: gelesen werden. Marlene Streeruwitz ist eine Schriftstellerin, in deren Prosa der Geist des Widerstands lebt. Der spricht von den Zurichtungen von Leben und Schreiben durch Markt und Macht, mithin: Kapitalismus und Patriarchat. Die Écriture der 64-Jährigen ist Enthüllungsarbeit, Trauerarbeit, Arbeit am Denken, an der Sprache selbst.
Ihr jüngstes Vorhaben nennt sie das „Griselda-Projekt“, benannt nach einer Verkörperung der idealen Frau in Giovanni Boccaccios Decamerone: In Griselda hat der Marchese Gualtieri eine Gattin gefunden, so gehorsam und diensteifrig, dass es die reine Freude ist. Trotzdem unterzieht er sie drei Prüfungen. Erst muss sie ihre Kinder zur Tötung freigeben, dann verbannt er sie und befiehlt ihr, ihm eine neue, junge Braut zuzuführen. Als Griselda auch dieses Opfer bringt, stellt er ihr die Braut als die totgeglaubte Tochter vor und erhebt die Standhafte wieder in Ehewürden. Aber warum nimmt Streeruwitz diese Geschichte auf, die ihren Weg durch Literatur und Kunst ging – bis hin zum „Meister der Griseldis“, jenem anonym gebliebenen italienischen Maler aus dem 15. Jahrhundert, dessen Bildzyklus Nelia im Schlusskapitel des Romans betrachtet?
Zu Beginn von Boccaccios Novelle erläutert Gualtieri, warum eine „ehrbare“ Frau so schwer zu finden sei: Man könne nicht zuverlässig von den Eltern auf die Kandidatin schließen, zumal man nichts von den „Geheimnissen der Mütter“ wisse. Es geht also um die zentrale Frage nach einer weiblichen Genealogie, die – statt Töchter wie Söhne über den Vater und dessen Erbe zu definieren – den weiblichen Nachkommen Aussicht auf eine eigene Herkunft, Tradition und Erbschaft eröffnet. Das ist der Kern von Streeruwitz’ Doppelroman. Und natürlich ist der Standpunkt der Autorin auf beide, Mutter und Tochter, verteilt.
Streeruwitz entwickelt ihr Thema mithilfe einiger Kolportageelemente. Der Roman beginnt mit dem Tod von Nelias Großvater. Fünf Jahre zuvor ist bereits ihre Mutter Dora gestorben, eine Schriftstellerin, deren Künstlernamen Nelia angenommen hat, denn sie ist ihr letztes, ein uneheliches Kind. In Frankfurt am Main, dem Mittelpunkt ihrer Reise von Wien über den Buchpreis-Messe-Horror bis zu ihrem Halbbruder nach London, wird Nelia von ihrem leiblichen Vater kontaktiert, den sie nur „den Mann“ nennt: ein verwitweter emeritierter Literaturprofessor mit reichlich weiblichen „Vertrauten“ – und ein starkes, subtiles Männerporträt. Bei ihrem Besuch in seinem Haus („Du wirst das alles hier doch erben“) erfährt Nelia beiläufig, dass er eigentlich kein Kind wollte. So begreift sie, dass Dora es vorzog, ihre Beziehung zu dem geliebten Mann zu opfern, statt das Kind abzutreiben – im Subtext: dem Gualtieri-Befehl zu folgen. Am hoffnungsvollen Schluss stellt sich heraus, dass Nelias Halbschwester ein Kind bekommen wird: außerhalb der Linie des Herrn Professors.
Damit sind auch die Anlässe von Nelias Roman Die Reise einer jungen Anarchistin in Griechenland gegeben, von dem man nur erfährt, dass es sich um eine Mischung aus Trauer-, Liebes- und politischem Text handelt. Nach Doras Tod hat Nelia in Griechenland den Aktivisten Marios lieben gelernt, der auf einer Demonstration verletzt wurde (und dem sie, wieder Kolportage, mit dem Preisgeld eine Operation finanzieren will). Diese Reise bedeutete, wie ihr Schreiben, Abschied von und Aneignung der Mutter zugleich.
Jetzt, in deren Buchmesse-Fußstapfen, erweist sich Nelia als das zu früh selbstständige Kind, dem der Schutz der Mutter, ihre Nahrung, Wärme und Sprache fehlten. Das zeigt sich im Motiv des vergessenen Mantels und mehr noch im Leitthema des Hungers: Die Preisverleihung erinnert Nelia an das SF-Opus Hunger Games; ihr eigener, überkontrollierter Hunger treibt sie dazu, Obst aus einer Biomülltonne zu klauben; endlich, vor den Griselda-Bildern, belehrt ein Lehrer seine verlegen kichernden Schülerinnen eindringlich, dass Frauen damals einen Vater oder Ehemann brauchten, denn sonst „they would have died of hunger“. Genau diese Häme begegnet Nelia in der Mischung aus Hass und Gier vonseiten der Buchmessen-Gualtieris. Und sind nicht, der Gedanke drängt sich auf, all die gestyl-ten Maskottchen der mächtigen Literaturmanager totgesagte Töchter, die als Bräute auf den Schoß ihrer Väter zurückkehren?
Gang durch die Hölle
In Frankfurt am Main bewegt sich Nelia im Zentrum der Macht. Was Marios’ ganzes Land erlebt, erleidet Nelia als Fremdling auf dem Geld- und Buchmarkt: den Abstieg. Der Aufenthalt auf der Buchmesse ist ein Gang durch die Hölle, dessen Stationen jede(r) nichtarrivierte Autor(in) durchmacht: Billige Hotelzimmer. Vom Frühstücksbuffet mitgenommenes Brot. Herbstkälte. Enge Aufzüge. Security-Filzen am Messeeingang. Künstliche Palmen am Hallenstand. Ein Verleger, der einen als „bestes Pferd im Stall“ lobt. Herablassender Zuspruch, aggressive Anmache, Saufen, Zynismus, schreiende Fröhlichkeit. Die Routine von Fotografen, Interviewern, Maske, TV-Talk. Und die kleinen Abweichungen von alldem. Präzise, differenziert und von Streeruwitz mitnichten satirisch geschildert. Indem sie dieses Szenario zum Mittelpunkt der Erzählung macht, packt sie den Stier bei den Hörnern. Daher das dankbare Hohnlachen des Betriebs, den sie vorführt. „Eine hübsche kleine Odyssee haben Sie da geschrieben“, blafft ein Kritiker Nelia gönnerhaft an. Welche Bestätigung, wenn jetzt einer auf Spiegel online hinschmiert: „Sie friert ständig. Hübsche Idee von der Streeruwitz, sie mit zu leichtem Gepäck reisen zu lassen!“
Nur wer Augen hat zu lesen, erkennt die Wegweiser bei der Erkundung einer weiblichen Genealogie, die richtunggebenden, aber auch die angetragenen Irrwege: von Phrasen über das „neue Mutter-Tochter-Problem“ bis zu Goethes Natürlicher Tochter, von Pippi Langstrumpf bis zu jener wirklich großartigen Szene mit der Autorin, die auf einer Messelesung den Mutterhass zur Emanzipationsbedingung erklärt. Welches Erbe kann eine (schreibende) Frau, also Tochter, antreten? Am Kulminationspunkt der Frankfurt-Handlung formuliert Nelia im Fernsehinterview die Schlüsselworte: „Ich kritisiere nicht. Ich lehne ab. Ich lehne jede Verantwortung für alle diese Erbschaften ab, mit denen ich belastet bin.“ Erst vor den Griselda-Tafelbildern in der Londoner National Gallery erkennt Nelia, was ihr die Mutter vererbt hat: „Solche Geschichten. Die hatten nicht gegolten. Für sie nicht. Ihr Erbe war, dass sie sich das so hatte denken können. Ihre Mutter hatte sich vor diese Geschichten gestellt. Hatte ihr die Sicht verstellt. Undurchsichtig. Hatte mit der Verstellung ihr das Leuchten erhalten.“
So endet das Buch und hinterlässt dennoch Zweifel an der Lösung. Kann Verstellung ein Medium der Überlieferung sein? Müssen die Mütter weiterhin ihre Geheimnisse wahren, undurchsichtig bleiben, um den Töchtern eine Richtung zu weisen? Dieser kluge Roman zeigt: Der Weg der Doras und Nelias ist noch längst nicht zu Ende gedacht.
Dorothea Dieckmann lebt als Schriftstellerin und Literaturkritikerin in Tübingen
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