Mit Über Nacht ist es Winter legt Silke Scheuermann - nach Erzählungen und einem Roman - ihren dritten Lyrikband vor. Sie entwirft darin lyrische Modelle von Wirklichkeit, erfindet parallele Möglichkeiten und stellt uralte Fragen um Leben, Liebe und Tod, Mensch, Natur und Welt so neu, dass die Lektüre zur Lust wird. Ihre literarischen Figuren bewegen sich durch Zwischenreiche. Die Beleuchtung wechselt von gleißender Sternenhelle zu tiefer Dunkelheit, die Temperatur von heißen Wirbeln zu eisig starrer Kälte. Das Tempo des Wechsels ist schnell. Das Gedicht hält den Moment des Vorgangs fest, in dem der Wandel geschieht. An den Rändern szenischer Inszenierungen leuchten Alternativen auf, werden weitergesponnen, verworfen oder in der Schwebe gehalten. Nichts ist entschieden. Zeilenbrüche und Metaphern lassen verschiedene Bedeutungen gleichzeitig zu, während Lakonie und die Konzentration auf wenige Bilder begrenzend wirken. Das macht die Gedichte spannend. Sie sind vage und pointiert zupackend zugleich. Das Grundmuster ist das Spiel. Locker klickte sich schon das Ich in dem Band Der zärtlichste Punkt im All von 2004 durch Zeiten und Räume, fegte gar umher zwischen Mischwesen, "Geschöpfen / die wir noch nicht kennen".
Die Stunde zwischen Hund und Wolf (Freitag 5/2007) heißt der in diesem Frühjahr erschienene erste Roman der Autorin, in dem unwägbare Dimensionen menschlichen Lebens plötzlich ins Bild kommen. Ungeheuerliches taucht wie beiläufig in Figurenrede auf. So hält sie es auch in ihrer Lyrik. Witzig und sarkastisch bedenkt sie das Prozesshafte in alltäglichen menschlichen Komödien, die sich jäh in Tragödien verwandeln können und umgekehrt. Altbekannte Gewissheiten werden ad absurdum geführt, misslungene Lebensentwürfe im imaginären Museum ausgestellt. In Wirklichkeit leer und ohne Fenster schienen die Museen der frühen Gedichte zu sein; die neuen wirken wie beiläufig gefundene Gedächtnis- und Erkenntnisorte. Die Exponate, die in dem Kapitel Das Museum falscher Anfänge zu besichtigen sind, ähneln Versuchsmustern, die sich als unlebbar erwiesen. Nähe und Ferne hat Scheuermann gleichermaßen im Blick. Zwischen der Kerze und den Sternen steht jenes Paar, das im ersten Gedicht des Buches nicht zueinander findet. Zwischenmenschliche Distanz erweist sich als unüberbrückbar - und doch macht gerade das Defizit das Beschreibenswerte aus. Die lyrischen Momentaufnahmen erzählen Geschichten von misslungener Liebe, vergeblicher Flucht, Gefangenschaft in Leere und Kälte. Zugleich führen sie Aufbruchsstrategien vor, Utopien eines anderen, sinnerfüllten Lebens.
Während die Liebe verschoben wird, träumt das Gedicht den Traum vom Fliegen, von Wirklichkeit und Wahrhaftigkeit in einem intensiv gelebten Leben jenseits von Einsamkeit und Entfremdung. Dass das lyrische Subjekt wohl weiß, dass die ersehnte Vollkommenheit eine Utopie bleiben muss, macht die melancholische Tonlage aus, die selbst die witzigsten Verse grundiert. Scheuermann ist eine Dichterin des Konjunktivs, des "Könnte" und "Würde". Die intellektuelle Skeptikerin mit dem besonderen Gespür für menschliche Befindlichkeiten und für die Platzierung geringster alltäglicher Dinge in universalen Zusammenhängen vermeidet jedes Pathos. Kosmisches Theater übersetzt sie als ein Kammerspiel aus einfacher Rede, die bildhafte Vergleiche und verfremdende Adjektive einbezieht. Ihre Metaphern sind unaufdringlich philosophisch aus den Elementen Erde, Luft, Wasser und Feuer gemacht. Sie entfalten im rhythmischen Redefluss eine unverwechselbare Sprachmelodie, die oft in die ansteigende Stimmlage der Frage mündet. Natürlich wird keine der Fragen im Gedicht beantwortet. Tatsächlich enthalten die Gedichte - außer gelegentlichen Gedankenstrichen - von allen Interpunktionszeichen nur das Fragezeichen, das aber umso häufiger.
Der Mensch erscheint in diesen Gedichten fremdbestimmt: Der oder die Befehlshaber agieren im Hintergrund. Das lyrische Ich beschreibt seine daraus resultierende Angst und seine Anstrengungen, die Situation unter Kontrolle zu bekommen oder zu behalten. Die vom Individuum nicht zu durchschauenden Vorgänge tragen zweifellos kafkaeske Züge. Nicht von ungefähr hat Scheuermann einst an der Universität Frankfurt an einer Dissertation mit dem Thema "Kafka und das Theater" gearbeitet.
In Sinnbildern beschreibt das Gedicht Verwandelte Weide den Kampf eines widerständigen Ich um Bodenhaftung und Balance. Dass es den Kampf verliert, scheint gewiss. Die aus Todesgewissheit geschöpften transzendenten Metaphern sind von klarer Schönheit: "Ich würde so leicht werden / als schwebte ich über den Jahren / ein schwarzes Zeichen / so hoch gewachsen dass es / nicht mehr lesbar war." Klassische und mythische Metaphern und die Zeichenhaftigkeit der Moderne weiß die Autorin zu nutzen.
Der Mensch entdeckt, dass er ein Anhängsel von Dingen geworden ist. Der Satz "Die Tiere führten uns wieder an" erinnert an die assoziierte Endzeit der Zivilisation in Ingeborg Bachmanns Gedicht Thema und Variation. Aber bei Scheuermann gibt es noch zwischenmenschliche Solidarität, wenn von "Brüdern und Schwestern der Kälte" die Rede ist. Menschen entwickeln Fluchtstrategien und üben sich in Ausweichmanövern. Scheuermanns Gedichte sprechen von Reisen, Imitationstechniken und ohnmächtigen Selbstvergewisserungen durch Schmerz: "Es verlangt einen danach / die Hand durch ein Fenster zu schmettern Zu bluten."
Konkrete gesellschaftliche Realität als Zeithistorie wird dagegen eher nüchtern und beiläufig erwähnt: "Fragen nach dem Krieg / Und das Gefühl dass man irgendwo hingehört" werden abstrakt einem Ding, einem Brief zugeschrieben, aber nicht wirklich gestellt. Soziale Wirklichkeit stanzt die Autorin in prototypische Figuren - vom kleinbürgerlichen Krimskramssammler bis zum Schlendrian, Zollbeamten oder Kali-Agenten. Das Ich des Gedichts Mimikry frönt einer anderen Fluchtstrategie: "Ich folgte der Mode Gab mich ganz / der Jugend hin ersetzte / Entsetzen mit Witzen". Sarkasmus gegen den Zeitgeist, aber auch Selbstironie sind unverkennbar.
Man hat der Dichterin den Vorwurf gemacht, ihre Gedichte seien lyrische Prosa. Das trifft nicht zu. Prosaelemente setzt Silke Scheuermann als Stilmittel ein. Ironisch sind die Prosaüberschriften in Satzform, die manche Gedichte zur angriffslustigen Satire machen. Für Lyrik ungewöhnlich lange Überschriften verwendet die Autorin immer dort, wo sie Erwartungshaltungen an tradierte Motive virtuos unterläuft. Scheuermanns Ophelia zum Beispiel ist kein passives Opfer mehr wie bei Shakespeare, Rimbaud, Heym oder Brecht. Sie ist eher ein wildes Mädchen, das mutwillig mit den Schwimmern spielt, sie hin und her schubst. Ophelia ist eine Wahnfigur der Emanzipation geworden, eine handelnde, die sich rächt, wenn auch mit kleinlichen Mitteln.
Das Lied von den geretteten Tieren / die nicht mehr vom Schiff wollten kehrt das biblische Arche-Noah-Motiv um. Die angeblich vor der Sintflut geretteten Tiere verweigern dem Menschen die Gefolgschaft. Sie wissen, dass es an Land keine Rettung mehr gibt. Tiere spüren drohende Katastrophen schon bevor sie geschehen, haben wissenschaftliche Untersuchungen über Naturkatastrophen bewiesen. Die von Scheuermann ad absurdum geführte menschliche Erwartungshaltung, dass die Tiere die Arche verlassen würden, die Weigerung der Tiere, lässt sich nur als Zeichen lesen, wie ja die Sintflut selbst auch als Metapher gelesen werden kann. Scheuermanns Tiere sind klüger als die Menschen, deren Spiel verloren zu sein scheint. Die Verweigerung der Tiere ist letztlich so etwas wie "Dem Bürger fliegt vom spitzen Kopf der Hut" und "Und an den Küsten - liest man - steigt die Flut" des Jakob van Hoddis im 1911 erstmals gedruckten Gedicht Weltende, das Kurt Pinthus 1919 in seine berühmte Anthologie Menschheitsdämmerung aufnahm.
Weder der Expressionist noch Silke Scheuermann nehmen lyrische Gesellschaftsanalysen vor. Ihre Gedichte halten in bildhafte Sprache transformierte Signale für Zeitenwandel fest und treffen damit die Atmosphäre ihrer Zeit. Beide Gedichte legen nahe, dass die Katastrophe, die dem Wechsel vorausgeht, noch bevorsteht. Scheuermann vermeidet den unheilschwangeren Ton der Prophetin. Schon im vorangegangenen Gedichtband stieß sie sich damit kräftig von Ingeborg Bachmann ab. Mit lapidaren ironischen Schlenkern verschiebt Scheuermann nun die Szenerie vom Tragischen ins Komische, etwa wenn im Arche-Gedicht der Hals der Giraffe das erstaunte Gaffen der Menschen nachzuahmen scheint, oder wenn Ophelia sich eine Lieblingsqualle zulegt. Souverän geht Silke Scheuermann mit tradierten Stoffen und Motiven um, auch mit antiken Mythen und Figuren.
Silke Scheuermanns Gedichte leben aus der Montage von Gegensätzlichem aus drei Bereichen, die sie miteinander verknüpft: irreale Traumwelten, soziale Beobachtungen und philosophische Sentenzen. Sie entwerfen Horrorreiche des Bösen, aber auch des Mythos und der Märchen. Ihr Wunderland bevölkern Medusen, Zentauren, Würgeengel und Wiedergänger, "Schwimmer an Atlantis Stränden", Feen, Nixen, Nymphen und Drachen. Sie erkunden die "B-Ebene von Träumen" und die Existenz benachbarter Welten". Das Material kommt aus dem Fundus des Irrealen und der Fantasiewelten analog zu Lewis Carroll, Joseph Conrad oder Joanne K. Rowling. In klassisch anmutenden Allegorien der Luft, des Meeres und des Feuers übt sich das Ich im Bestehen von Proben, im Überschreiten von Grenzen und in Welterkenntnis. In saloppen Brüchen konterkariert Scheuermann metaphorische Traumwelten jäh mit profanem Alltagsgeschehen.
Die schmerzensreiche kleine Meerjungfrau etwa befindet sich plötzlich in einem Pulk wie verrückt Schuhe kaufender Frauen. In einer Welt, in der vor allem der Besitz von Dingen zählt, wird Konsum zum Sinnersatz. Die "Seele", die bei Scheuermann öfter erwähnt wird, ist in Gefahr zu einer "Schüssel für Almosen" zu mutieren, die auf Spenden wartet. In Bildsprache erfasste Details aus dem Bettler- und Obdachlosenmilieu finden sich in Gedichten wie Ammenmärchen und Museum der stillen Engel. In diesem Kontext wirken manche Sentenzen durchaus wie soziale und gesellschaftliche Befunde. "In den Städten ist Winter" (Ammenmärchen). Das Gedicht Glut weiß, dass es die Hölle nicht gibt, Wohl aber "ihr extrem ähnliche Räume". Im Traum der Madame Tussaud aber heißt es: "inmitten der Gräuel richtet Ikarus seine Flügel auf". Auch der Dichter im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts verwendet die sich befreiende mythische Figur als Symbol der Sehnsucht. Gesellschaftliche Ambitionen oder gar Bekenntnisse lassen sich aus den sozialen Beobachtungen in Scheuermannschen Gedichten nicht ableiten. Die Autorin wahrt die Distanz zu dem, was ihre Gedichte benennen. Statt Engagement bietet sie kontemplative Lebensbetrachtung in Rollenrede mit beeindruckenden Pointen: "Doch was ist das Leben sonst / als umfunktionierte Verletzung / jahrelanges Blättern in Entwürfen / Und dann tippt ein anderer Finger / aufs beste Das Todesmotiv" (Der Tätowierer)
Die Mischung aus ernsthafter Nachdenklichkeit, kritischem Verstand, lakonischer Verknappung und leiser Ironie macht die Gedichte der Silke Scheuermann unverwechselbar. Da schweben sie beinahe zeitlos dahin und sind doch ganz im Hexenkäfig gefangene Kinder der Zeit, die rhythmisch Klopfzeichen geben.
Silke Scheuermann: Über Nacht ist es Winter. Gedichte. Schöffling, Frankfurt am Main 2007, 96 S., 14,90 EUR
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