Solch einen Romanhelden wie diesen Fredy Neptune alias Böttcher gab es noch nie: mythisch und landproletarisch zugleich, ein Unbehauster der Moderne par excellence, Weltmensch und dennoch bodenständig und in der Natur zuhause, ein Peter Schlemihl, der aber statt des Schattens seine Empfindungsfähigkeit verliert. Als Australier deutscher Abstimmung bleibt Friedrich Adolph Böttcher ein Gezeichneter und Ausgeschlossener, den es in fünf Romankapiteln über die Kontinente und durch zwei Weltkriege treibt. Als Seefahrer ist er ein moderner Odysseus, der jedoch immer wieder nach Hause, nach Dungog in New South Wales zurückfindet, von wo er - Weib und Kind zurücklassend - erneut als ein seltsamer Don Quichotte aufbricht, um den Kampf mit den Schrecken des 20.
20. Jahrhunderts aufzunehmen. Seit er im Krieg Zeuge einer Gräueltat von Türken gegen armenische Frauen wurde, lebt er gleichsam in einem "Nullkörper", der als Folge des Schockerlebnisses keinerlei Empfindungen mehr haben kann, aber fortan zu enormen Kraftanstrengungen fähig ist. Das Bild der verhöhnten, mit Kerosin übergossenen und angezündet, ihren "Todestanz" sterbenden Frauen zieht sich als Motiv durch den gesamten Roman. In traumatischen Endlosschleifen im Gedächtnis der Hauptfigur wiederholt, kehrt es im Verbrennen der Mutter im Inferno des Dresdner Feuersturms 1945 erneut zurück und gipfelt in der alles vernichtenden Glut der Hiroshima-Bombe.Was die Kraft des Murrayschen Erzählens ausmacht, ist vor allem die mündliche Rede. Der Ich-Erzähler beginnt mit einer bedächtige Beschreibung einzelner Fotos aus seinem Leben und steigert sich ohne Umschweife zu einem dramatischen Lebensbericht. Er erzählt in einer Umgangssprache, die aus der Tradition der australischen Landarbeiter und kleinen Farmer kommt, ein bildhafter und gestenreicher Soziolekt, einerseits geprägt von den Überlieferungen der Aborigines, andererseits von den deutschen Vorfahren der australischen Immigranten. Dem Übersetzter Thomas Eichhorn ist es gelungen, dieses ganz besondere australische Englisch mit seinen Slang- und deutschen Rotwelschelementen geschickt in Szene zu setzen. So ist etwas völlig Neues entstanden: eine mythische Legende in spannenden Dialogen voller umgangssprachlicher Redewendungen, Flüche und Floskeln jenseits der gehobenen Literatursprache. Wann las man je mit so viel Witz verwendete Einsprengsel aus Bürokratensprache, Militär oder Medien? Im Deutschen gehen Autoren wie Eberhard Häfner und Thomas Kling in eine ähnliche Richtung, doch haben sie nicht den langen Atem des Les Murray, 1938 in New South Wales geboren, in Australien einer der ganz Großen der Lyrik.Anders als Derek Walcott in seiner Neufassung des Karibik-Mythos im großen Poem erfindet Les Murray eine nie zuvor gehörte Geschichte. Ein geschmeidigen Versrhythmus voller Enjambements und scharfer Zäsuren wörtlicher Figurenrede treibt das Romangeschehen des Australiers in Bildern, Szenen und Dialogen kräftig voran: der Held auf blankem Pferderücken auf der väterlichen Farm in Dungog, als abenteuerlicher Seefahrer, der jäh auf ein Kriegsschiff gen Odessa gerät, wo ihn eine tuberkulöse Lepra ereilt. Als Aussätziger, Obdachloser, Bettler und Matrose durchkreuzt er auf Schiffen unter diversen Flaggen das Mittelmeer, nimmt verschiedene Gelegenheitsjobs und Identitäten an, um zu überleben als Gewichtheber, Journalist, Chauffeur und "Oberspionagerat". Die Tragödie wandelt sich zur Satire und zur Parodie auf Presse und Militär. Im zweiten Kapitel verdingt er sich in Australien als Hafenarbeiter, Stahlwerker, Fischer an einem Binnenfluss und Möbelträger bei einer Speditionsfirma, schließlich als Kraftakteur und Artist beim Wanderzirkus der Familie Golightly, die ihm den Künstlernamen Fredy Neptune verpasst.Das Spiel mit Namen, vor allem mit dem der Hauptfigur, wirkt wie eine Metapher der verlorenen Identität. Die wörtliche Rede macht´s möglich: aus Böttcher wird Boaticher, Beecher, Boocher, Boucher, Boatcher, Bircher, Beecher, Buttocher, Belcher, Blücher. Er ist der auswechselbare Jedermann, der den wichtigsten Teil seines Menschseins verloren hat. Les Murray betreibt ein tragikomisches Sprachspiel voller Situationseffekte. Manchmal bleibt dem Leser das Lachen im Halse stecken, denn etliche der in atemberaubendem Tempo wechselnden Szenen sind absurd, grotesk und lassen eine aus den Fugen geratene Welt erkennen: Rassendiskriminierung, Klassenkämpfe, Glaubensfehden und Massenmord. Obwohl die Fabel über Jahrzehnte straff auf das Zurückgewinnen von Fredy Neptunes Empfindungsfähigkeit hin angelegt ist, strotzt der Versroman von amüsanten Abschweifungen, Episoden, Lügengeschichten, Abenteuerszenen á la James Bond, Batman oder Till Eulenspiegel. Wie Fredy etwa den Fahrkartenkontrolleuren entkommt, indem er sich splitternackt auszieht, um an den draußen wartenden Gesetzeshütern, die vor Verblüffung erstarren, vorbeizupreschen, ist nur eine der amüsanten Eulenspiegeleien gegen Polizei, Bürokratie und Kadavergehorsam. Fredy Neptune, selbst ein Verfolgter und Gehetzter, mausert sich zum Retter der Erniedrigten und in ihrer Menschenwürde Verletzten, zum Rächer der Enterbten und Beleidigten. Als Tramp in den USA rettet er einem vom Mob bedrohten Farbigen das Leben; in Nazideutschland bewahrt er den geistig behinderten Hans vor der Sterilisation und womöglich vor der Ermordung, schleust ihn sogar außer Landes und nimmt ihn wie einen Sohn oder Bruder mit sich in die Heimat. Manche Figuren wandern mit dem Helden durch mehrere Kapitel, andere tauchen blitzartig auf, sagen ein paar originelle und für ihre Spezies sehr bezeichnende Sätze und verschwinden im Nichts. Fredys Frau Laura ist eine über alle Kapitel hin sich entwickelnde und wandelnde, sehr plastische Figur, desgleichen Neptunes Mentor, der Küchenchef Sam Mundine, der, halb Jude, halb Aborigine, überall auf mysteriöse Weise seinen Weg kreuzt. Nicht alle fiktiven Figuren sind eindeutig. Aus der Artistin Leila Goligthly wird in transvestitischer Verwandlung der Mann Leland und gänzlich ungeklärt bleibt die Identität des Basil Thoroblood. Als Fredy Neptune ihn im dritten Kapitel ("Hollywood-Degen") in Amerika aufspürt, changiert Thoroblood zwischen Irrenhaus-Direktor, korrupter Geheimagent, Mafia-Boss, Räuberhauptmann und Sektenführer. Nach dem Muster der Heldensaga hat Fredy Neptune allerlei Proben zu bestehen und scheint unverwundbar. Trotz Degenstich, Stromschlag und Kugel durchs Herz steht er immer wieder auf. Parodie reiht sich an Parodie, dass es ein Vergnügen ist. In der Rolle des Hollywood-Statisten zerfetzt Murray alias Fredy Neptune den Mythos des amerikanischen Filmbetriebs zur Groteske. Reale Figuren der Geschichte wie Marlene Dietrich und sogar Adolf Hitler tauchen auf und werden sowohl in reale wie fiktive Geschehnisse verstrickt. Marlene Dietrich etwa verwickelt Fredy Neptune, der die Bücher ironischerweise lediglich nach den Farben ihrer Einbände zu unterscheiden gelernt hat, in ein Gespräch über Rilkes Panther-Gedicht. Ich war ganz hin. Das war nicht wie des Türken Thorobloods / "Gedichte", groß, aufgebauscht, gefährlich. Das war destilliertes Korn. / Das war von solcher Art, die Menschen vor dem Tod bewahren konnte, urteilt Fredy beeindruckt. So läuft im Subtext des Versromans ein Diskurs über niederträchtige, schaurige und lebensrettende Verse. "Wie gut ist ein Gedicht? Kann es sie wieder lebendig machen nach dem Tanz in Kerosin?" fragt Murray in der Rolle des Fredy Neptune am Ende. Da ist er schon erlöst durch Sprache. Eine wundersame Mär aus Träumen, Abenteuern, Überlebensstrategien, ein salopp geschriebener Mythos, der das Zeug hat, seinen Verfasser dem Literaturnobelpreis einen Schritt näher zu bringen.http://www.freitag.de/2004/14/04141502-c.jpgLes Murray Fredy Neptune Ammann Verlag 500 Seiten EUR 29,90 ISBN 3-25010-475-2 Leslie Allan ("Les") Murray , geboren 1938 in New South Wales/Australien, studierte in Sydney moderne Sprachen. Er ist Preisträger zahlreicher renommierter Literaturpreise, unter anderen des Grace Leven Prize for Poetry, des T.S.Eliot Prize und der Queen´s Gold Medal for Poetry. 1995 gewann er den Petrarca-Preis. Seine Werke wurden bereits in ein halbes Dutzend Sprachen übersetzt.
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