Kann es sein, dass die wahren Amerikaner nur noch in Europa zu finden sind, während die Führer der Vereinigten Staaten »alte Europäer« - um Rumsfelds Formulierung zu gebrauhen - und sogar alte Deutsche geworden sind? Die Fronten strategischen Denkens erleben jedenfalls gegenwärtig eine merkwürdige Umkehrung. Während die amerikanische Führung das Völkerrecht bricht und - wie einst die europäischen Mächte - allein auf militärische Stärke setzt, verteidigen alte Europäer, zumindest Deutsche und Franzosen, die liberale Tradition der amerikanischen Außenpolitik, die im System der Vereinten Nationen ihren institutionellen Ausdruck fand.
Von den »Gründungsvätern« der amerikanischen Republik üb
ik über Woodrow Wilsons Idee des Völkerbundes bis hin zu den UN-Prinzipien des Selbstbestimmungsrechts der Nationen und des Gewaltverzichts waren es früher vor allem die Vereinigten Staaten, die Europas machtbesessene Realpolitik überwinden wollten. Davon ist wenig geblieben. Freilich hat der Hahn schon mehr als drei Mal gekräht. Denn das Verleugnen der »idealistischen« Leitbilder ist nicht neu, sondern hat eine lange Vorgeschichte, die mindestens bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges zurückreicht.Wende zur »Realpolitik«Man kann darüber streiten, wann genau dieser Prozess der Umkehrung einsetzte und welchen Einfluss philosophisch-strategisches Denken dabei hatte. Jedenfalls setzten die USA mit dem Beginn des Kalten Krieges »realpolitisch« vorrangig auf militärische Stärke (Truman-Doktrin), konservative Theoretiker fanden dabei zunehmend Gehör. Schon 1944 hatte der deutschstämmige protestantische Theologe Reinhold Niebuhr mit seiner Schrift Die Kinder des Lichts und die Kinder der Finsternis das naiv-optimistische Menschenbild der amerikanischen Tradition kritisiert. Die »Kinder des Lichts« sind diejenigen, die ihr Eigeninteresse einem höheren Gesetz unterordnen. Konkret gemeint sind natürlich die westlichen Demokratien unter Führung der USA. Die »Kinder der Finsternis« sind die anderen, die rücksichtslos ihr Eigeninteresse verfolgen. Gemeint waren der Nationalsozialismus und später auch die Sowjetunion. Der springende Punkt blieb jedoch: Die »Kinder der Finsternis« sind zwar böse, aber zugleich klug, weil sie um die Macht der Selbstsucht im Leben wissen. Entsprechend sind die »Kinder des Lichts« zwar gut, aber zugleich töricht, weil sie die Macht der Selbstsucht nicht kennen oder jedenfalls unterschätzen. Sie müssen daher ihren naiven Glauben an das Gute im Menschen aufgeben, sich die Klugheit der Bösen aneignen, und das heißt, den Realismus der Macht lernen, ohne ihm allerdings zynisch zu verfallen.Diesen Schritt zum Zynismus geht erst der Politologe Hans Morgenthau, wie Niebuhr in Deutschland geboren und später lange Jahre Professor in Chicago und New York. In seinem Buch Macht und Frieden (Politics among Nations) von 1948 verdammt er den klassischen Liberalismus (bis hin zu Roosevelt) als zutiefst illusionär. Es reiche nicht, schreibt Morgenthau, nur die Naivität abzulegen und mit der irrationalen Macht zu rechnen, man müsse sich auch in den allgegenwärtigen und endlosen Machtkampf einordnen, den die Geschichte nun mal darstellt. Man könnte vermuten, dass in der Zeit der Entspannung seit den sechziger Jahren wieder der »Idealismus« in den USA die Oberhand gewann. Dagegen spricht jedoch schon, dass die friedliche Koexistenz nach amerikanischer Interpretation auf dem »Gleichgewicht des Schreckens«, das heißt einem Mechanismus wechselseitig gesicherter Vernichtung beruhte. Es war in der Tat der machtpolitische Realismus, der vorherrschend blieb. Er führte nur jetzt zu der nüchternen Einsicht, dass die Sowjetunion in der atomaren Rüstung gleichgezogen hatte, man daher das Machtstreben zügeln und mit dem Gegner zu einem Agreement kommen musste, und zwar möglichst unabhängig von ideologischen Fragen.Nehmen wir Henry Kissinger als Beispiel, so ist er wohl unter anderem deshalb von Nixon berufen worden, weil er sich in der Kunst der klugen Beschränkung auskannte. Schon 1957 hatte er eine Arbeit über das europäische Gleichgewicht unter Metternich veröffentlicht und 1968 Reflections on Bismarck. Das prädestinierte ihn auch zu der Erkenntnis, dass sich neben den beiden Supermächten inzwischen noch andere Machtzentren herausgebildet hatten (China, Japan, Europa), dass man also nicht nur auf militärische Stärke setzen durfte. Seine ausgedehnte Reisediplomatie diente daher dem Zweck, in dieser multipolaren Welt eine Balance herzustellen und mit viel List die amerikanischen Interessen zu wahren. Dabei blieb er immer ein »Realist«, also auf der Linie des alten deutschen Konservatismus. Das zeigt sich zum Beispiel daran, dass er - analog zu Metternich und um der außenpolitischen Stabilität willen - Emanzipationsbewegungen rigoros bekämpft hat beziehungsweise bekämpfen ließ, siehe Chile 1973.Auf Kissinger folgt eine kurze Phase der amerikanischen Außenpolitik, in der Woodrow Wilsons Idealismus noch einmal aufscheint: in Carters Kampagne für die weltweite Durchsetzung der Menschenrechte. Später gibt es von 1992 bis 1994 unter Clinton ein kurzes Intermezzo des »selbstbewussten Multilateralismus«. Nur die Erfahrung des unverhofften »Sieges« im Kalten Krieg lässt kurzzeitig die klassische liberale Hoffnung noch einmal auferstehen. Ansonsten aber beherrschen Realisten, Neokonservative und in den neunziger Jahren auch Machtfundamentalisten die politisch-philosophische Debatte. Kampf der Kulturen und GeopolitikAls erster Meilenstein auf dem Wege zur heutigen Geisteslage in den USA mag Samuel Huntingtons The Clash of Civilisations (Kampf der Kulturen) gelten, 1993 zunächst als Aufsatz und später als Buch erschienen. Wer denkt da in Deutschland nicht an Oswald Spenglers Untergang des Abendlandes von 1918? Natürlich wird eine solche Lehre bei einem Amerikaner nicht derart finster und bombastisch daherkommen wie bei einem Deutschen. Gewiss ist auch der angelsächsische Begriff der Zivilisation ein anderer als der elitäre deutsche Begriff »Kultur«. Aber wie bei Spengler ist die »Eine Welt« ebenso eine Illusion wie der Fortschritt der Dritten Welt, sind die Kulturkreise in sich geschlossene Organismen, die wachsen, blühen und verfallen. Wobei das Abendland zwar nicht »untergeht«, aber »verblasst«. Es geht um die Verteidigung des Westens (USA und Europa) gegen den Rest der Welt, hauptsächlich gegen den Islam, der sehr negativ gezeichnet wird, und gegen das aufsteigende China.Als später der »Krieg gegen den Terror« begann, war es nicht leicht, die herrschende Logik zu hinterfragen. War dieser Krieg tatsächlich nur eine Antwort auf den 11. September? Hatte er nicht weit darüber hinausgehende Ziele? Ein Buch, zwei Jahre zuvor in Deutschland und schon 1997 in den USA erschienen, hatte doch bereits präzise Auskunft gegeben. Ich meine den Bestseller Die einzige Weltmacht. Amerikas Strategie der Vorherrschaft von Zbigniew Brzezinski, dem einstigen Sicherheitsberater von Carter und einflussreichen Strategen. Aufschlussreich an seinem Buch ist die unbefangene Wiederaufnahme eines geopolitischen Denkens, das wir in Deutschland eigentlich zu unserer dunkelsten Vergangenheit zählen. So macht es ihm nichts aus, Karl Haushofer, auf den sich Hitlers Konzept vom notwendigen Lebensraum im Osten stützte, als einen seiner theoretischen Vorläufer zu nennen.Während wir in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg gelernt haben, dass der Territorialstaat im Grunde ein Relikt aus dem Agrarzeitalter ist, weil er angesichts von Atomraketen seine Bevölkerung gar nicht mehr verteidigen kann, und auch die Wirtschaftskraft nicht mehr vom verfügbaren Territorium abhängt, hält Brzezinski daran fest, dass »das Weltgeschehen weiterhin von Gebietsstreitigkeiten beherrscht« und »für die außenpolitischen Prioritäten eines Nationalstaates ... nach wie vor die geographische Lage bestimmend« ist. Von dieser Tradition ausgehend, kommt Brzezinski zu bezeichnenden Aussagen. Wenn die Vereinigten Staaten ihre globale Hegemonie erhalten wollen, schreibt er, müssen sie Eurasien beherrschen. Das Gebiet von der Türkei im Westen bis an die Grenze Chinas im Osten und von Kasachstan im Norden bis zum Jemen im Süden sei die »Kernzone globaler Instabilität«. Den Kern dieser Kernzone wiederum bildet nach Brzezinski der von ihm so genannte »eurasische Balkan«. Zu ihm gehören die acht ehemaligen Sowjetrepubliken im Süden Russlands (von Georgien bis Kasachstan) und - Afghanistan. Die Parallele zum »europäischen Balkan« ist natürlich bewusst gezogen, denn es handle sich um das »wohlvertraute Phänomen des Machtvakuums mit der ihm eigenen Sogwirkung« und zugleich um ein »ökonomisches Filetstück«. Nur noch Freunde und FeindeSeit Bush junior regiert, bestimmen sendungsbewusste Neokonservative, wie Richard Cheney, Donald Rumsfeld und Paul Wolfowitz den Ton in Washington. Scheinbar nehmen sie die liberal-idealistische Tradition auf, widersprechen ihr aber zugleich: Die Außenpolitik soll sich an moralischen Werten orientieren, Demokratie und Menschenrechte verbreiten. Aber sie braucht angesichts der Überlegenheit der USA nicht mehr die Kooperation der Alliierten und schon gar nicht der UNO. Zu beachten ist auch, dass die Neokonservativen bereits seit längerer Zeit mit den protestantischen Fundamentalisten verbunden sind. So entstand eine explosive Mischung: einerseits eine Politik, die sich immer mehr religiös begründet, und andererseits eine Religiosität, die immer politischer wird. Daher die ungenierte Einteilung der Welt in Gute und Böse schon bei Reagan und der Freund-Feind-Dualismus bei Bush junior: Wer nicht für uns ist, ist gegen uns.Überdeutlich ist hier eine weitere Parallele zur konservativen deutschen Tradition. Ich meine Carl Schmitt, den bedeutendsten Staatsrechtler des europäischen Faschismus, der ebenfalls stark religiös geprägt war. Die historische Brücke zwischen ihm und den amerikanischen Neokonservativen bildet Leo Strauss, der 1932 mit einem Empfehlungsschreiben Schmitts Deutschland verließ, von 1938 bis 1973 in Chicago lehrte und zu dessen großer Anhängerschar unter anderem Paul Wolfowitz und Richard Perle zählen. Bekanntlich sieht Schmitt in der Unterscheidung von Freund und Feind das Spezifikum des Politischen. Souveränität erlangt der Staat erst, indem er in der jeweiligen konkreten Situation den Feind identifiziert. Das ist konsequent gedacht. Denn wenn die Völkerwelt das Chaos eines Kampfes aller gegen alle ist, dann muss man wissen, wo gerade der Feind steht. Auch kann ein Staat nur in deutlicher Abgrenzung vom anderen zu sich selbst kommen, wie menschlicher Zusammenhalt überhaupt am besten gegen andere gelingt.So suchte Bush junior im Wahlkampf zwar nach dem Feind, fand ihn aber nicht: »Als ich mit der Vorstellung einer gefährlichen Welt aufwuchs, wusste ich exakt, wer diese anderen waren. Es war wir gegen sie und es war klar, wer sie waren. Heute sind wir uns nicht so sicher, wer sie sind, aber wir wissen, dass es sie gibt«. Mit diesem diffusen Feindbild konnte er die Wahlen nicht gewinnen und musste deshalb ins Amt gehoben werden. Nach dem 11. September war der Feind dann definiert, und die Mehrheit der Nation sammelte sich hinter dem Präsidenten. Dass dabei demokratische Freiheiten in Mitleidenschaft gezogen wurden, passt genau ins Schmittsche Schema. Denn wenn der Staat in Beziehung zum auswärtigen Feind eigentlich erst zum Staat wird, kann er es natürlich von innen heraus nicht werden, ist demzufolge seine innere Verfassung auch nicht entscheidend.Wenn sich die geistigen Fronten zwischen den USA und Europa beziehungsweise Deutschland derart verkehrt haben, dann kann auch von einer Wertegemeinschaft zwischen beiden kaum noch die Rede sein. Denn die europäischen Nationen haben ja - ganz nach alter amerikanischer Lehre - eine Kultur der Kooperation aufgebaut. Eine sinnlose Bemühung, wenn sich nun herausstellt, dass die Geschichte, nach neuer amerikanischer Lesart, so etwas eigentlich gar nicht erlaubt, weil sie nach den ehernen Gesetzen des Machtkampfes, des Kreislaufes der Kulturen oder der Geopolitik verläuft. In dieser Sicht kann nur der Starke das Recht setzen. Dass es dabei zu Übertreibungen kommt, liegt in der Natur der Sache. Welch unverhoffte Entlastung für alle, die das dunkelste Kapitel der deutschen Geschichte endlich verdrängen möchten und die Außenpolitik des modernen Amerika als Zeugen aufrufen können.
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