Prag ist als Thema und Gegenstand von Literatur und Geschichte unerschöpflich. Sein labyrinthischer Untergrund fordert zu immer neuen "Gängen in die Finsternis" auf, wie der Titel eines Romans von Paul Leppin heißt. Seit weit über hundert Jahren wird die Stadt auf unterschiedliche Weise betrachtet und erkundet, entsprechend dem Zeitgeist, der sie gerade beherrscht. Tschechische, deutsche und jüdische Autoren aus seiner großen kulturellen Vergangenheit haben wieder und wieder über Prag geschrieben, auch wenn die Stadt ihren Geschichten oft nur als Kulisse diente. Prag war und ist allgegenwärtig.
Aufschlussreiches Beispiel, wie sich der Blick auf Prag und der Umgang mit ihm gewandelt haben, sollen zwei Bücher sein - die Romantrilogie der Prager Autorin Daniela Hodrová Tryznivé mesto, die der Züricher Ammann-Verlag in der exzellenten Übersetzung von Susanna Roth unter dem Titel Città dolente - Band 1: Das Wolschaner Reich(1992), Band 2: Im Reich der Lüfte(1994), Band 3: Theta(1999) - herausbrachte und Prag in Schwarz und Gold des in Prag gebürtigen und heute in den USA lebenden Germanisten Peter Demetz, von Joachim Kalka aus dem Amerikanischen übertragen.
Diese Bücher mit ihren 1500 Seiten Prag sind wie Spiegel, jedes für sich und beide gegeneinander. Das Lesen beider Werke bereitet Genuss, Vergnügen und Anstrengung, ist ein Fest für die Sinne, ein Fest für den Kopf. Der Gewinn ist berauschend.
In Daniela Hodrovás Trilogie durchschreitet der Erzähler ein Tor mit der Aufschrift CITTÀ DOLENTE, das in Dantes Hölle führt. Der Blick in den Trichter mit den neun Kreisen ist zugleich Blick in eine riesige Prager Baugrube, aus der etwas Schreckliches herauswächst. Doch ist dies schon eine Geschichte aus dem dritten Teil, und charakterisiert ihre Erzählart.
Der Roman hat weder einen zentralen Helden, noch eine geschlossene Erzählstruktur, Fiktives und Reales mischen sich in einem fort, die Zeit wird gedehnt und beschleunigt, es gibt kein Kontinuum, keinen Anfang, es gibt kein Ende. Natürlich erweist sich so ein Text als eine geniale "faule Maschine", wie Umberto Eco sagt, in der der Leser arbeiten, sich zum Autor kooperativ verhalten muß.
Alles beginnt damit, dass Alice Davidovic?, ein jüdisches Mädchen, aus dem Fenster im fünften Stock ihrer Wohnung am Wolschaner Friedhof springt (sogleich klingt eine der originärsten Seiten Prager Historie mit - ihre Fensterstürze seit 1419), um sich vor dem Abtransport in das Lager zu retten.
Die jungen und alten Bewohner dieses Hauses, die noch lebenden und schon gestorbenen, die Tschechen, Juden, Deutschen, die dort über die Zeiten leben und gelebt haben, bilden mit ihren Geschichten das Gerüst des ersten Bandes, dessen Handlung 1942 einsetzt. Der zweite Band Im Reich der Lüfte, gruppiert die Ereignisse im wesentlichen um Sophie Ziesel und deren weitverzweigte Familienbeziehungen, wobei es der Phantasie des Lesers überlassen bleibt, die Verwandlungen zwischen den Personen von Alice und Sophie aufzudecken oder beide als zwei voneinander gänzlich unabhängige Figuren zu verstehen.
Einer der wichtigsten Gegenstände, wenn nicht gar der wichtigste, der solche Verkettungen ermöglicht, ist ein Muff, jenes altertümliche Ding, das, wenn sehr edel, aus Persianer, die Frauen umgehängt trugen, um sich darin die Hände zu wärmen. Dieser Muff ist Gegenstand großen Begehrs, zuerst besitzt ihn Alice, später auch Sophie, manche jagen sogar nach ihm, wie Dornjoggel, das zwergenhafte Kind des Hausbesorgers und Kollaborateurs Dorn, er wird verkauft, getauscht, verloren, wiedergefunden, versteckt, in ihm verwandeln sich die Hände von Sophie Ziesel in die von Alice Davidovic?, er ist ein Erinnerungsstück, ein Talisman, ein Amulett, ein Zauberstab, eine Höhle, der Bauch der Welt, der Mutterschoß. Die Suche nach dem Muff ist die Suche nach der eigenen Kindheit und schließlich auch die Suche nach dem Roman, ein Zusammenhang, über den sich der Leser erst nach und nach bewusst wird.
In beiden Teilen reihen sich die Geschichten, nicht im Sinne chronologischer Abfolge, sondern mehr als ein erzählerisches Strukturprinzip, einer Perlenkette gleich, auf der die Schlacht am Weißen Berg 1620 ebenso aufgereiht ist, wie der Prager Aufstand 1945, das Attentat auf den Reichsprotektor Heydrich ebenso wie die Februarereignisse 1948, als die Kommunisten die Macht übernahmen, die Hussitenkriege mit dem Kampf am Prager Z?iz?kov-Berg ebenso, wie die russischen Panzer auf dem Wenzelsplatz im August 1968.
Die Figuren, die tatsächlichen wie auch die erfundenen, also solche, die leben, solche, die nicht mehr leben und solche, die niemals gelebt haben, sind der nie abgerissene Faden des Gedächtnisses und des Sich Erinnerns. So wird Helene Ziesel im Franziskus-Krankenhaus bei den Barmherzigen Brüdern von ihrer Tochter Sophie besucht. Das Erzählen von diesem Besuch geht durch die Wand in das Nebenzimmer über, wo der Komponist Franz Xaver Brixi im Sterben liegt, aber das geschah 200 Jahre früher. Auf dem Heimweg begegnet Sophie zudem auch noch Karel Hynek Mácha, dem romantischen Dichteridol der Tschechen, der 1836 mit sechsundzwanzig starb.
"Es war nur möglich, wenn alles, was einmal war, immer noch irgendwo ist, verhaftet im Raum", heißt es im Roman. Dieses Verkettungsprinzip kehrt immer wieder, das Unbekannte verbindet sich mit dem Bekannten, das Nichtige, Alltägliche mit dem historisch Wichtigem, aber zugleich wird die Frage gestellt, welches dieser Bilder das richtige ist.
Gänzlich aufgelöst wird dieses scheinbare Aufreihen von Personen und Ereignissen, das Ausbreiten von "Familiengeflechten", im dritten Band, der Theta betitelt ist. Hier tritt der Erzähler aus seiner Rolle heraus, die Autorin selbst übernimmt seine Funktion und immer direkter verflicht sich die Lebensgeschichte der Daniela Hodrová mit der ihrer Figuren.
Theta ist das Schlüsselbuch der Trilogie. Von dort her, im Vor- und Zurücklesen, enthüllt sich das Erzählte in seinen verwirrenden, vielfältigen Verflechtungen und Verwandlungen, wird die Stadt Prag zu einem faszinierenden Labyrinth, die Geschichte, immer wieder neu und überraschend gedeutet. Die Vergangenheit, zur Last geworden, wird auseinandergenommen und auf andere Weise zusammengesetzt. Theta ist zugleich ein intimer Dialog der Autorin mit sich über die Arbeit am Roman. Von dort her befragt sie das Geschriebene. Denn spätestens jetzt muss gesagt werden, dass Daniela Hodrová auch Literaturwissenschaftlerin ist, sich in zahlreichen Veröffentlichungen mit der Theorie des Romans und seiner Geschichte befasst hat. Ihr Prager Verlag hat eine neue Arbeit angekündigt, die wohl das Ergebnis all dieses Suchens sein wird: "Die Kunst des Romans".
Im Reflektieren über den Roman enthüllt Daniela Hodrová die Quellen ihrer Geschichten: So ist der Muff zum Beispiel nicht allein ein Romanding, er hat tatsächlich existiert. Auf einem Nachkriegsfoto, das sie mit ihrem Bruder und dem Vater zeigt, steckt ihre Hand in diesem Muff. Die Aufnahme entstand unmittelbar in der Nähe des Hauses am Wolschaner Friedhof, in dem sie damals wohnten. "Es war das Haus, in dem Alice Davidovic?, die zu Beginn des Krieges aus dem Fenster unseres Kinderzimmers sprang, gewohnt hatte."
Und Prag? Wie erscheint die Stadt in diesem Romangewebe? Zuerst ist es nur ein Haus am Wolschaner Friedhof am Rande des Stadtteils Z?iz?kov. Scheinbar eine Furt aus dem Reich der Lebenden in das der Toten, aber das Sterben hält nur einen Moment an, die Toten übernehmen eine neue Rolle, sie leben als Tote weiter und bewegen sich unter den Lebenden. Sie führen untereinander und mit den Lebenden Gespräche.
So geht es mit den meisten Bewohnern dieses Hauses. Dort wohnen Großmutter und Großvater Davidovic? mit Alice, die aus dem Fenster springt, in die Wohnung zieht der Deutsche Hergesell, ein Protektoratsangestellter aus Jena, dann lebt dort Jan Paskal mit seinen Frauen. Herr Klec?ka versorgt heimlich seinen Freund Turek (der Entomologe ist, also alles über die Verwandlungen der Schmetterlinge weiß) mit Lebensmitteln. Herr Turek hält sich in einer Gruft auf dem Wolschaner Friedhof vor der Internierung in Hagibor, einst Ort einer jüdischen Sportstätte in Prag, im Protektorat einer der Sammelplätze für die Transporte nach Theresienstadt, versteckt. Auch der Prager Aufstand hat mit einer Schießerei auf dem Friedhof nicht das Prager Zentrum als Handlungsort und selbst der Einzug der Roten Armee wenige Tage später findet auf dem Sofa beim Hausbesorger Dorn statt.
Mit der Trilogie markiert Daniela Hodrová einen interessanten Sachverhalt im Kontext des Schreibens über Prag: Nicht mehr das Zentrum, die Altstadt, das Judenghetto, die Kleinseite mit Burg, bestimmen Handlung und Milieu des Geschehens, die Autorin verlagert es an den Rand und von dort, von der Peripherie, lässt sie ihre Figuren scharf in das Zentrum, in die Ereignisse der tschechischen Geschichte stoßen. (Zwei Prager Autoren ihrer Generation, Michal Ajvaz und Jachy´m Topol, folgen ihr darin, wenn auch auf andere Art).
Z?iz?kov und das angrenzende Vinohrady besitzen ein eigenes Fluidum, das sich deutlich vom strapazierten legendenumwobenen Altstadtkern unterscheidet. Z?iz?kov, vornehmlich proletarisch geprägt, ein anderer sozialer Organismus, legt als Lebenswelt der Figuren auch eine andere Sicht auf die Stadt und die tschechische Geschichte nahe. Näher an Trauer, näher an Leid, näher an Plagen, weniger Glanz, weniger Gold, weniger Magisches.
Prag wird entzaubert, ist nicht mehr der geheimnisvolle Raum. Prag, das sind die Schatten, unter denen manchmal das Licht aufblitzt. Dieses Licht blitzt manchmal über Personen auf und entreißt sie den Schatten. Karel Hynek Mácha, der zur Ikone gemachte Dichter, gehört dazu, der selbst Prag als schweigende Stadt der Toten beschreibt. Boz?ena Nemcová mit ihrem tragischen Leben - und, fast wie eine Beschwörung - Milada Souc?ková, die große totgeschwiegene, vergessene tschechische Autorin. Das sind die Masken, die die Autorin sich aufsetzt, um durch sie zu sprechen. "Ich schreibe einen Roman, um die Lebenden zu retten, aber auch, um meine Toten aus der Gedächtnislosigkeit der Vergangenheit hinauszuführen." Fast versteht es sich, dass ihre zwei folgenden Romane Perunov den (Peruns Tag, Perun ist der böhmische Donnergott) und Ztracené detí (Verlorene Kinder) auch Pragromane sind.
Peter Demetz, in Prag geboren und aufgewachsen, verwickelt in das deutsch-jüdische Kulturmilieu - sein Vater war Dramaturg am Deutschen Theater von Prag, seine Mutter verschwand mit einem der Vernichtungstransporte über Theresienstadt in den Osten - flüchtete 1948 aus Prag nach England und war später Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität New Haven, Connecticut. Der erste Satz seines Buches lautet: "Ich hasse und liebe meine Heimatstadt." In seinem Buch vereinigen sich zwei Haltungen, die für einen Gegenstand wie Prag und seine Geschichte von unbezweifelbarem Vorteil sind: die intime Kenntnis des Raumes und Milieus, samt der Erinnerungen daran - mit dem kühlen transatlantischen Rationalismus, mit dem er seinen Gegenstand betrachten kann. So ist ein großer vielteiliger und vielstimmiger Essay zustande gekommen, der wieder und wieder gelesen werden kann.
Das Buch ist Spiegel, wie vielfältig einst in der Stadt Zusammenleben möglich war, bis nationalistische Engstirnigkeit, deren politische und kulturelle Hintergründe Demetz schonungslos freilegt, dieses Zusammenleben zerstört. Durch den Verlauf der Geschichte verfolgt Demetz, wie tschechische, deutsche, jüdische, italienische Mentalitäten sich ständig kreuzen, kaum vermengen, nebeneinander bestehen. Man akzeptiert sich, hat seine Händel, lebt.
In Prag war, im Vergleich zu Städten wie Wien oder Berlin, die Assimilation über lange Zeiträume hinweg äußerst gering. Demetz verbirgt seine polemische Absicht nicht und schreibt gegen eine Reihe von Nationalhistorikern aus allen Zeiten an, die die Vielstimmigkeit der Geschichte dieser Stadt auf möglichst nur eine Stimme reduzieren wollen. Damit will er Prag nicht den Nimbus nehmen, den es hat, ganz im Gegenteil, er macht seine Geschichte vielfältiger, widersprüchlicher und spart vor allem jene Tatsachen nicht aus, die sich mit dem Verhältnis der Tschechen zu den Deutschen und zu den Juden und umgekehrt befassen. Der Autor legt als Literaturwissenschaftler und Essayist, ohne es über zu betonen, Wert auf die kulturellen Bewegungen innerhalb der Stadt. Hier hat er es mit nicht weniger Vorurteilen und Klischees zu tun.
Was wohl dem gegenwärtigen Leser am bekanntesten tönt, ist das Bild von Prag als magischer Stadt und als Stadt der (arg strapazierten) deutschsprachigen Prager Literatur mit ihren Flaggschiffen Kafka und Brod, Werfel und Kisch, allesamt jüdische Autoren. Dass dies nur eine Episode in der langen und reichen Prager Kultur ist, legt Demetz offen und liefert glänzende Beispiele von anderen Autoren, und ebenso analysiert er den Mechanismus, der das Bild vom magischen Prag hervorgebracht hat.
Es waren vor allem die Fremden, Engländer, Deutsche, Skandinavier, die Prag mit seinen vielen Kirchen und engen Gassen als einen mystischen Ort entdeckten und das Fin de siècle beförderte eine Literatur und Kunst, die Prag als einen magischen geheimnisvollen, Ort erscheinen ließ. Meyrinks Golem, Paul Wegeners Film, Rilkes frühe Texte, all das schuf ein Bild von Prag, das bis heute noch immer strapaziert wird, das mehr verdeckt als es beleuchtet. Das hartnäckige Beharren auf der deutschen Prager Literatur, die im Umkreis dieser Zeit entstand, wird aus diesem einseitigen Bild gespeist, das die Kenntnis der tschechischen Literatur und Kunst jener Zeit ausschließt, auch ein unterlassener Schritt gegenseitigen Verstehens.
Die acht Kapitel, nebst Prolog und Epilog, die Demetz aus der Geschichte Prags wählt, sind nicht immer die von der Historiographie bevorzugten Themen. Er schreibt in einem glänzenden Kapitel über den fast unsichtbar gewordenen König Ottokar II., "die einzige Shakespearsche Gestalt der tschechischen Geschichte" oder räumt mit vielen Mythen auf, die sich um eine andere große Zeit der tschechischen Geschichte ranken, um T.G.Masaryk und die Erste Republik.
Prag als eine europäische Stadt zu definieren, damit auch ihre Akteure als Personen mit europäischer Dimension zu kennzeichnen, sie vom Plunder nationalistischer Instrumentalisierung zu befreien - das versucht der Autor immer wieder. Seine Exkurse zu Hus, zu Karel Hynek Mácha oder zur ersten großen tschechischen Autorin Boz?ena Nemcová (deren Roman Babicka/Die Großmutter Demetz aus dem Tschechischen neu übersetzt hat) lassen interessante Parallelen zur Romantrilogie Daniela Hodrovás entdecken.
Es ist spürbar, wie Peter Demetz von dieser erlebten und durchforschten Simultanität der Geschichte Prags fasziniert ist und sie als eine Form von Geschichte begreift, die fern aller Begrenzungen und Vereinnahmen erzählt werden muss. Dies konsequent, polemisch, im Detail genau, mit großem Atem und pointiert gedacht und niedergeschrieben zu haben, nicht ohne am Schluss sich selbst intim in diese Geschichte einzubringen, das ist der Wert seines Buches.
Daniela Hodrová: Città dolente - Trilogie:
Das Wolschaner Reich. Totenroman. Ammann-Verlag, Zürich 1992, 262 S., 38,- DM. Im Reich der Lüfte. Lebende Bilder. Roman. Amman-Verlag, Zürich 1994, 395 S., 44,- DM. Theta. Ammann Verlag, Zürich 1992-1998, 292 S., 42,- DM
Peter Demetz: Prag in Schwarz und Gold. Sieben Momente im Leben einer europäischen Stadt. Piper Verlag, München 2000, 609 S., 36,90 DM
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