Alles kam zusammen, was eine Tragödie braucht

Ungarn vor 50 Jahren Die gescheiterte Revolution hatte durchaus Langzeitwirkungen

Ungarn 1956, das ist kein Datum, vergleichbar dem Abend des 9. November 1989, als Menschen auf der Mauer tanzten. Es ist kein Ereignis, in dem eine Vorgeschichte sich zu einem einmaligen, kaum mehr lösbaren Knoten verdichtete. Es ist eher ein Vorgang von ungeheurer Dramatik, in dem die Handelnden einem Schicksal folgten, das sie kaum überblickten - Heldentum, Schuld und Vergehen sich schwer entwirrbar mischten. Es gab Subjekte, die eigenständig Entscheidungen trafen und zu Objekten wurden, über die verfügt wurde. Das ganz wesentlich von Kräften außerhalb Ungarns. Und alle Beteiligten konnten durchaus plausible Gründe für ihr Verhalten anführen. Kurz: Alle Faktoren kamen zusammen, um eine Tragödie hervorzubringen, unabwendbar und grausam.

Unvergesslich sind die Reportagen des Rundfunks geblieben und alles überlagernd bis zum heutigen Tag die Stimme: "Helft uns". Aus dieser drängenden und beschwörenden Stimme klang Hoffnung wie Verzweiflung. Und dann verstummte sie. Und mit einigen Kollegen in Bonn erörterten wir erschüttert und zugleich mit professioneller Vernunft, was nun in Budapest vor sich gehen würde, weil Hilfe nicht kommen werde. Das jedenfalls war schon damals klar; denn Krieg durfte es nicht geben. In Westberlin gelang es dem Parlamentspräsidenten Willy Brandt nur mühsam, die aufgebrachten Studenten vom Sturm auf das Brandenburger Tor aufzuhalten. Schon damals diskutierten wir die Wirkung amerikanischer Rundfunksendungen, die als Hilfeversprechen verstanden werden konnten. Vorgänge und Ablauf jener erregenden zwei Wochen sind bis zur Gegenwart nicht unbezweifelbar klar, durchsichtig nach Kriterien objektiver historischer Forschung. Das auslösende Moment kam aus Polen, aber es wirkte eben in Ungarn. Und in keinem anderen Land des sozialistischen Lagers.

Den Generalstreik in Posen hatte die polnische Armee erstickt, aber die Auflösung der Kolchosen und die Freiheiten für die Presse wurden geduldet. Wladislaw Gomulka - rehabilitiert - wurde wieder Generalsekretär und konnte die sowjetische Führung von der Bündnistreue Polens überzeugen. So wird am 24. Oktober in Budapest Imre Nagy eingesetzt - und die sowjetische Führung hatte begründet keinen Zweifel an seiner Bündnistreue. Aber anders als in Polen weitete sich der Studentenprotest revolutionär aus und forderte den Abzug der sowjetischen Truppen. Ein halbes Jahr vorher hatte Chruschtschow auf dem 20. Parteitag in seiner geheimen Rede, die nicht geheim blieb, die Verbrechen Stalins enthüllt. Das war kein Freibrief, wenn der Zusammenhalt der Moskauer Herrschaft gefährdet schien. Die erforderliche harte Antwort durch den Einsatz sowjetischer Truppen stieß auf Widerstand.

Nagy bildet eine neue Regierung, unter Beteiligung von Janos Kádár. Sowjetische Truppen ziehen sich aus Budapest zurück. Am 1. November verkündet Nagy den Austritt aus dem Warschauer Pakt und die Neutralität Ungarns und verbindet das mit einem Appell an die UNO um Unterstützung. Innenpolitisch will er Arbeiter- und Bauernräte schaffen, was an das jugoslawische Beispiel erinnert. Und Janos Kádár gründet die Ungarische Sozialistische Arbeiterpartei (USAP), arbeitet weiter mit Nagy zusammen und geht am 4. November auf die sowjetische Seite über, die nun massiv nach Budapest zurückkehrt. Zwischendurch hat Kardinal József Mindszenty bei den Amerikanern Asyl gefunden und angeregt, er könne an die Spitze Ungarns treten. Nagy, dem die Zügel entglitten sind, findet in der jugoslawischen Botschaft Zuflucht, die ihn nicht endgültig schützen kann und geht seinem Schicksal entgegen. Janos Kádár, zwei Jahre zuvor noch verfolgt und rehabilitiert, tritt an die Spitze. Am 11. November ist alles zu Ende und beginnt dennoch neu.

Keiner der beiden Protagonisten hatte "saubere Hände", war frei im Sinne des lateinischen Wortes "integer vitae scelerisque purus", also von Verbrechen. Skurriles Zusammentreffen der Geschichte: 1989, genau am Todestag von Kádár, wurde Nagy rehabilitiert.

So viel zunächst zum gewissermaßen lokalen Teil des Dramas. Eine nicht weniger skurrile Tagesidentität fand am 31. Oktober 1956 statt. Unter diesem Datum gibt es zwei Erklärungen des amerikanischen Präsidenten Dwight D. Eisenhower. In der einen begrüßt er die ungarische Erhebung. In der anderen verurteilt er Gewaltanwendung als Mittel internationaler Streitigkeiten. Gemeint waren Frankreich, England und Israel. Zur Vorgeschichte: Israel war gegen die Nationalisierung des Suez-Kanals durch Nasser vorgegangen - London und Paris hatten militärisch interveniert, in alter kolonialer Manier. Chruschtschow hatte sich an Eisenhower gewandt und unmissverständlich gewarnt, dass ein Konflikt im Nahen Osten zu einer weltweiten Katastrophe führen könnte. Für Stunden tauchte die Gefahr eines Weltkriegs mit atomaren Waffen auf. Dagegen erschien nun Ungarn wirklich fast als lokaler Zwischenfall. Dementsprechend forderten die USA fast ultimativ die sofortige Einstellung der Feindseligkeiten von den beiden Verbündeten; und London und Paris folgten. Am 6. November war dort alles zu Ende, um später in anderer Form fortgesetzt zu werden.

Die frappierende Gleichzeitigkeit der Krise in Ungarn und am Suez-Kanal verschafft bedeutende Einsichten: Im Herrschaftsgebiet des Warschauer Paktes braucht Moskau keine Intervention des Westens zu befürchten, was sich 1968 in Prag bestätigt. Und Großbritannien und Frankreich waren zum letzten Mal souverän genug, um einen Krieg zu beginnen, aber nicht mehr stark genug, um ihn zu gewinnen oder zu eigenen Bedingungen zu beenden. Sie waren sichtbar zu Mittelmächten degradiert worden. Die Supermacht lässt sich auch durch ihre besten Freunde nicht in einen unerwünschten Konflikt verwickeln. Das Eigeninteresse dominiert. Die Großmacht Sowjetunion musste die Blockdisziplin sichern; sonst würde der Zerfall des Warschauer Paktes ausrechenbar.

Ungarn braucht sich nicht als Opfer der Suez-Krise zu sehen. Moskau hätte in jedem Fall den Aufstand erstickt. Es gab nur in den letzten fünf Tagen zwischen dem 6. und 11. November, als die Waffen in Ägypten und Ungarn schwiegen, kein Risiko mehr. Die ungarische Tragödie war nicht aufhaltbar - ihre erstaunlichen Langzeitfolgen, die sie dennoch hatte, waren unabsehbar.

Natürlich haben wir registriert, dass Tito im Sommer 1956 die Sowjetunion besuchte und dort gefeiert wurde. Natürlich erregte es Aufsehen, das Chruschtschow zur Erholung nach Jugoslawien reiste. Beide hatten offensichtlich ein persönliches Verhältnis mit politischen Auswirkungen gefunden. Im September unterstützte Tito die Neuordnung der Beziehungen zwischen der Sowjetunion und den Volksdemokratien. Während des ungarischen Dramas nahm Jugoslawien ohne Belastung seines Verhältnisses zu Moskau bis zu 80 Personen in seiner Botschaft in Budapest auf.

Danach habe ich nicht einmal registriert, dass Kádár einige Errungenschaften der Revolution bewahren konnte, es ist mir auch nicht aufgefallen, dass bereits einen Monat später Tito und Gomulka ihre gemeinsame Auffassung öffentlich vertreten haben, dass es unzulässig sei, sich in die inneren Angelegenheiten der sozialistischen Staaten einzumischen. Man musste sich der Treue Gomulkas und Kádárs sehr sicher sein. Beide konnten nur unter diesen Bedingungen wirken. Der Grad des Vertrauens, der in den stundenlangen Gesprächen zwischen Chruschtschow und Tito entstanden ist, wird in den nicht veröffentlichten Akten kaum verzeichnet sein. Dass der Schriftsteller Ivan Ivanji, damals jugoslawischer Korrespondent in Budapest, seinen Beobachtungen die Form eines Romans gegeben hat, ist durchaus angemessen. Die Rolle Titos in diesen aufregenden Vorgängen ist jedenfalls bisher unterbelichtet.

Viele Jahre später hatte ich meine erste Begegnung mit Kádár, da gab es schon die allgemeine Auffassung, dass wer im sozialistischen Lager leben müsse, in Ungarn am besten versorgt und am unbeschwertesten sei. Als erstes fielen mir die Finger Kádárs auf. Die Folterer hatten ihm während seiner Haft in den frühen fünfziger Jahren die Nägel ausgerissen.

Er ließ Georg Lukács, der zu den Wortführern des Aufstandes gehört hatte und Kulturminister in der Regierung Nagy´ gewesen war, leben und wirken. Der marxistische Philosoph konnte mit Hilfe seiner Freunde in der DDR den Einfluss seines Denkens gerade in den Jahren danach auf den Westen ausweiten.

Ich habe diesen Mann bewundert und seine Fähigkeit für die notwendige Gratwanderung seines Landes, trotz seiner Vergangenheit oder vielleicht gerade deshalb. Und ich habe seine Weisheit bewundert, die ihn die Doktrin formulieren ließ: "Wer nicht gegen mich ist, ist für mich." Das haben wir in Bonn als Signal der Hoffnung gehört, auf Entspannung und Annäherung. Es war das Gegenteil des bekannten Prinzips der Polarisierung, das George Bush später wiederholt hat: "Wer nicht für mich ist, ist gegen mich." Ich habe dem damaligen außenpolitischen Sekretär der USAP versucht, nahe zu bringen, dass sein Land klein genug sei, um außenpolitische Bewegungsmöglichkeiten zu erproben, die größere Länder nicht haben. Der Sekretär wurde ein Freund, er hieß Gyula Horn. Als Außenminister hat er den Zaun zu Österreich zerschnitten. Das wirkte 1989 wie ein Durchmarsch.

Seither hat die emotionale Beziehung der Deutschen zu den Ungarn einen besonderen Rang erhalten. 1956 hat Ungarn ein Zeichen gesetzt, für Europa wie für die Welt, dass der erstarrte Status quo, der durch das Ende des Zweiten Weltkrieges entstanden war, nur solange halten würde, wie Wille und Fähigkeit der Sowjetunion reichen, dafür ihre militärische Macht einzusetzen.

Der Bundeskanzler Brandt war geprägt vom Aufstand am 17. Juni 1953, von Posen und Budapest 1956, dem Bau der Mauer 1961 und der Besetzung Prags 1968. Er konnte sehr wohl fürchten, ob die Polen 1980 noch einmal erfahren wollten, dass Hilfe aus dem Westen nicht kommen würde. Gewalt von außen und von unten war kein Weg zur Befreiung. Er fühlte sich bestärkt in seiner Entspannungspolitik.

Die gescheiterte Revolution hatte durchaus Langzeitwirkungen. Ob dafür die Tragödie Ungarns und ihre Opfer notwendig gewesen sind - das ist eine menschliche Frage, die von der Geschichte nicht gestellt wird.


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